100 Prozent Anders
zumindest jahrelang eingebildet). Es war jedes Jahr das Gleiche: Kaum hatten wir fünf das Haus verlassen, um zum Weihnachtsgottesdienst zu gehen, da stöhnte meine Mutter: „Du meine Güte, ich habe meine Handschuhe vergessen. Sie liegen in der Küche.“ Mein Vater tat so, als würde er sich über ihre Schusseligkeit aufregen: „Mein Gott, Helga, wo hast du nur deine Gedanken?“
Papa stapfte also zurück ins Haus und gab vor, Mamas Handschuhe zu holen. In Wirklichkeit legte er aber in Windeseile die Päckchen unter den Weihnachtsbaum und machte alle Lichter im Haus an. Wenn wir von der Messe aus der Kirche nach Hause kamen, erstrahlte das Wohnzimmer in vollem Glanz. Als wir klein waren, waren wir Kinder natürlich felsenfest davon überzeugt, dass das Christkind unser Haus verzaubert hatte. Irgendwann wurden wir jedoch stutzig, da unser Vater jedes Mal ohne Mamas Handschuhe zurückkehrte. Die vergaß er natürlich bei all der Hektik. Als ich acht Jahre alt war und wir am Heiligen Abend wieder mal vorm Haus auf Papa warten mussten, sagte ich ganz trocken: „Papa, du hast wieder die Handschuhe vergessen.“ Ab diesem Zeitpunkt war meinen Eltern klar, dass wir Kinder Bescheid wussten.
Letztes Jahr zu Weihnachten gab mein achtjähriger Sohn Alexander übrigens den gleichen Kommentar ab, als ich an Heiligabend die Handschuhe meiner Frau vergessen hatte …
***
Meine Mutter führte in unserem Haus eine Gaststätte aus dem Nachlass meiner Großeltern und einen „Tante-Emma-Laden“. Die Gaststätte habe ich nicht mehr in Erinnerung, da sie recht bald nach meiner Geburt geschlossen wurde. Später erzählte meine Mutter mir, dass ich glücklicherweise ein unkompliziertes Baby gewesen sei. Es kam wohl oft vor, dass meine Mutter unten im Erdgeschoss unseres Hauses Gäste in der Kneipe sitzen hatte, denen sie Bier zapfte, während ich oben im ersten Stock in meinem Bettchen lag und schrie. Sie rannte hin und her, Treppe rauf, Treppe runter. Irgendwann hatte sie darauf keine Lust mehr. Stattdessen konzentrierte sich meine Mutter nur noch auf Omas „Tante-Emma-Laden“.
Für uns Kinder war das natürlich ein Paradies. Süßigkeiten und Eiscreme waren im Hause Weidung immer vorhanden. Wir mussten jedoch um Erlaubnis fragen, wenn wir uns ein Milky Way oder Gummibärchen aus dem Regal nehmen wollten. Unser Geschäft war für uns kein Selbstbedienungsladen, diesbezüglich war meine Mutter sehr streng.
Auf den gefühlten zwölf Quadratmetern gab es alles, was das Herz begehrte. Obst, Wurst und Käse, Waschmittel, Schreibblocks und Konserven bis hin zu Schokolade und Chips. Jeden Dienstag kam der für uns zuständige Handelsvertreter, um bei meiner Mutter die Bestellungen für die Wochenendlieferung aufzunehmen. Es war damals eine komplett andere Welt. Nicht wie heute, wo man über Scannerkassen den Warenablauf festhält und der angeschlossene Computer auf Knopfdruck im Zentrallager die fehlende Ware ordert, damit sie am nächsten Vormittag geliefert wird. Nein, der Handelsvertreter kam mit seinem Bestellblock zu uns ins Esszimmer, machte bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackenem Kuchen auf seiner Liste an der gewünschten Ware seinen Haken, und freitags war die Anlieferung.
Ich nutzte bei jedem Besuch des Handelsvertreters die Gelegenheit, mein neuestes Repertoire zum Besten zu geben. Sämtliche Lieder von Heintje oder Gus Backus. Später auch von Vicky Leandros, Katja Ebstein und Lynn Anderson mit „Rosegarden“.
Unser Esszimmer war sozusagen meine erste Bühne. Das Unterhaltungsprogramm in unserem kleinen Dorf hielt sich in Grenzen. Es gab einen Schützenverein und eine jährliche Kirmes. Keine glamourösen Festlichkeiten, aber die wenigen Veranstaltungen, übers Jahr verteilt, waren für mich als Kind immer ganz besonders. Ich war sechs Jahre alt, als in unserer neuen Dorfkneipe mal wieder die traditionelle „Dorfweihnachtsfeier“ anstand und ich gefragt wurde, ob ich ein paar Weihnachtslieder singen wolle. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Kleine von Weidungs gerne singt. Klar! Wie aufregend! Endlich mal nicht nur vor der Tante oder dem Onkel – oder dem wöchentlichen Handelsvertreter. Nein, endlich ein richtiges Publikum!
Damit die anwesenden Personen, es sind in meiner Erinnerung maximal 50, mich auch sehen konnten, stand ich auf einem Stuhl. Ich wurde angekündigt mit: „Jetzt singt der kleine Bernd“, und ich schmetterte „Heidschi Bumbeidschi“ und noch zwei Weihnachtslieder, a cappella, also
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