100 Prozent Anders
Dort habe ich zum ersten Mal etwas typisch Französisches gesehen – diese übertapezierten Türen, die wir in Deutschland gar nicht kennen. Auch vom französischen Toilettenpapier war ich schon als Kind unglaublich begeistert. Bei uns zuhause gab es Klopapierrollen, bevorzugt noch mit diesen scheußlichen bunten Blumen bedruckt. Bei meiner Tante stand auf der Toilette eine elegante Box, aus der man feine, gefaltete Blättchen zog. Diese Ästhetik im Bad hat mich als kleinen Jungen nachhaltig beeindruckt.
Als meine Cousine Catherine 1969 heiratete, fuhren meine Eltern mit uns Kindern zur Hochzeit nach Paris. 500 Kilometer mit zwei kleinen Kindern im Auto. Es war die Hölle. Dafür war das Fest umso schöner. Es gibt Fotos von mir in einer kurzen weißen Hose mit dunkelblauem Jackett. Mein Bruder Achim hätte so etwas nie angezogen. Ich liebte es schon als Junge, mich schick zu machen.
Meine Mutter und ihre Schwester telefonieren seit über fünfzig Jahren jeden Sonntag zur selben Uhrzeit miteinander. Sonntags ist es billiger, denken beide. Dutzende Male habe ich versucht, meiner Mutter diesen Spleen auszutreiben, aber sie lässt sich nicht davon abbringen. In der einen Woche ruft Tante Marianne an, das andere Mal meine Mutter. Mein Onkel starb 2008, seitdem lebt meine Tante allein in ihrem Haus an der französischen Atlantikküste.
Regelmäßig biete ich meiner Mutter an, mit ihr und meinem Vater zu Tante Marianne in den Urlaub zu fliegen. Doch meine Eltern fliegen nicht gern. Und mit dem Auto von Koblenz bis in den Nordwesten Frankreichs zu fahren, ist ihnen verständlicherweise zu anstrengend. Also begnügt sich meine Mutter mit den wöchentlichen Telefonaten mit ihrer Lieblingsschwester.
Ich bin bis heute ein absolutes Mama-Kind. Wir telefonieren mindestens jeden zweiten Tag miteinander. Sie ist letztes Jahr 75 Jahre alt geworden. Kurz nach ihrem Geburtstag im September rief sie mich an und erzählte mir stolz: „Ich war beim Arzt. Er meinte zu mir: ‚Also, Frau Weidung’, sie haben Blutwerte, die hat manch Fünfzigjährige nicht mehr.“ Im Verhältnis zu meinem impulsiven Vater ist sie die Ruhigere. Innerhalb der Familie ist sie allerdings die Chefin. Nach außen hin scheint mein Vater der Herr im Haus zu sein, doch eigentlich hatte schon immer meine Mutter das Sagen. Eben die klassische Rollenverteilung. Die beiden ergänzen sich wunderbar und feiern dieses Jahr ihren 55. Hochzeitstag. Beide sind in der Gegend um Münstermaifeld aufgewachsen und wohnten als Kinder nur sechs Kilometer voneinander entfernt. Es war logisch, dass sie sich irgendwann über den Weg laufen mussten.
In den Fünfzigerjahren setzte man sich ja nicht mal schnell ins Auto und fuhr zum Feiern in die Diskothek. Auf dem Land gab es im Jahr genau eine Kirmes und ein Schützenfest als Kontaktbörse. Meine Eltern lernten sich 1954 beim Tanzen auf dem Schützenfest kennen. Im Mai 1956 war Hochzeit, im Mai 1957 kam Achim zur Welt. Es war also keine „Muss“-Heirat, sondern tatsächlich Liebe.
Mein Vater Peter arbeitete als leitender Finanzbeamter in Koblenz und war außerdem nebenberuflich 28 Jahre lang Bürgermeister von Münstermaifeld-Mörz. In seiner Freizeit engagierte er sich als Erster Vorsitzender des örtlichen Schützenvereins und ist mittlerweile Ehrenbürger von Münstermaifeld. Also ein, wie man sagt, durch und durch solider Mann, vom Showbusiness so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Sein schönstes Hobby war es, sich handwerklich zu betätigen. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, uns Kindern irgendwelche Plastikspielsachen zu kaufen.
Zu meinem fünften Geburtstag wünschte ich mir unbedingt einen Kaufladen. Da mein Vater nun mal ein Tüftler war, stand er nächtelang in seiner kleinen Werkstatt und baute mir den tollsten, größten und einzigartigsten Kaufladen, den ich je gesehen hatte. Jede Mini-Wurst, jede Tomate, jedes kleine Brötchen hatte er selbst aus Holz geschnitzt. Das Allerbeste daran war aber, dass man den Kaufladen zur Post umfunktionieren konnte. Ich bekam ein Set Postkarten, Briefmarken und kleine Notizblöcke geschenkt und war stolz wie Bolle! Seine handwerklichen Fähigkeiten endeten damit, dass er mit viel Eigeninitiative und Muskelkraft noch ein zweites Haus für die Familie baute. Zu meinem persönlichen Leidwesen, was ich später noch näher erläutern werde.
Auch die Weihnachtsfeste verliefen bei uns stets nach demselben Ritual, bei dem Papa die Zügel in Händen hielt (das hat er sich
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