100 Prozent Anders
ohne begleitende Musik. Als ich meine Lieder gesungen hatte, gab es Applaus und Bravo-Rufe sowie eine Tafel Schokolade und eine Tüte Chips.
Wow! Der Virus war entfacht! Was für ein Nährboden für eine jungfräuliche Künstlerseele. Ich tat etwas, das mir Spaß machte, und bekam dafür als Lohn etwas, das mir schmeckte.
Hallo, ihr Bühnen der Welt, ich komme!
***
Im Februar 1970 veränderte sich mein familiäres Leben. Meine Schwester Tanja wurde geboren, und ich war damals mindestens genauso aufgeregt wie mein großer Bruder bei meiner Geburt.
Ich hatte mir immer eine kleine Schwester gewünscht. Seit ich fünf Jahre alt war, legte ich fleißig Zuckerstücke für den Klapperstorch auf unsere Küchenfensterbank. In unserer Weidung-Großfamilie mit vielen Tanten und Onkel gab es 16 Enkel, davon aber nur drei Mädchen. Seit ich denken kann, hieß es bei uns zuhause: „Bei den Weidungs kommen immer Jungs raus. Die können keine Mädchen.“ Aber ich wünschte mir eine kleine Schwester. Als Tanja geboren wurde, war das für mich natürlich großartig. Gleichzeitig fand ich es auch völlig normal, dass der Klapperstorch sich über meinen Zucker gefreut und deshalb meinen Wunsch erfüllt hatte. Erst Jahre danach fragte ich mal vorsichtig nach, wer eigentlich den Zucker von der Fensterbank weggenommen habe. Es war meine Mutter.
In Mörz gab es keine Schule, deshalb verbrachte ich die ersten beiden Jahre meiner Grundschulzeit in einem Nachbarort, und danach besuchte ich die Grundschule in Münstermaifeld. Zwischen Lernen und familiären Verpflichtungen trat ich zwischendurch bei diversen Dorffeiern im Umland und im Altenheim auf und sang einige Lieder meines Repertoires. Meine komplette Freizeit bestand aus Singen! Während meine Kumpels aus dem Dorf auf dem Bolzplatz umhertobten, hüpfte ich zuhause in meinem Zimmer vor dem Spiegel herum und sang. Kurzzeitig war ich einmal Messdiener in unserer kleinen Dorfkirche. Da man dabei ja auch irgendwie im Rampenlicht stand und etwas Besonderes war, hatte ich mich freiwillig gemeldet. Als Messdiener stand man ja irgendwie auf einer Bühne und wurde vom Publikum bestaunt. Da wir keinen eigenen Pfarrer hatten, fand sowieso nur alle sechs Wochen ein Gottesdienst in Mörz statt. Zwischendurch gab es lediglich die eine oder andere Beerdigung.
Meine Eltern erzogen uns Kinder zwar nach katholischem Glauben, aber besonders streng wurde das bei uns nie gesehen. Ich fand es witzig, Messdiener zu sein. So erlebte man wenigstens mal etwas. Am ulkigsten war der Pfarrer. Wenn ich oder der zweite Messdiener ihm die Karaffe mit Wein brachten, hielt er seinen Kelch bewusst so, dass wir ihn vollmachen mussten. Wollten wir Jungs stilles Wasser dazu gießen, zischte er uns an: „Kein Wasser, kein Wasser“, und kippte sich den Wein unverdünnt in seinen gierigen Schlund. Als Junge nimmt man das ja noch nicht so wahr. Außerdem hat man in dem Alter noch Respekt vor dem Herrn Pfarrer. Erst später ging mir ein Licht auf, und ich dachte mir: „Was für eine alte Schnapsdrossel.“
Alle Jungs, die ich kannte, wollten Feuerwehrmann oder Lokomotivführer werden – ich Sänger. Da gab es für mich auch gar keine Alternative.
Doch bevor ich mich voll und ganz auf meine Karriere als kommender Superstar konzentrieren konnte, musste ich zunächst eine etwas weniger glamouröse Laufbahn einschlagen. Mein Vater beschloss nämlich, dass er uns ein weiteres Haus bauen wollte. Achim fand die Hausbau-Idee ganz toll und half in jeder freien Sekunde auf dem Bau mit: Er konnte schon früh Leitungen legen und Schlitze klopfen und war schon immer wahnsinnig praktisch veranlagt. Mein Vater machte fast alles in Eigenleistung. Er kam jeden Abend um fünf Uhr nach Hause. Wir aßen zu Abend, dann zog er seine Arbeitsklamotten an und verschwand mit meinem Bruder auf die Baustelle. Uns ging es finanziell nicht schlecht. Aber dennoch musste während dieser Bauphase das Geld zusammengehalten werden. Auch Zeit für Urlaube gab es keine, da mein Vater jedes Wochenende und seinen kompletten Urlaub für den Hausbau nutzte.
Die ersten Wochen drückte ich mich erfolgreich vor dieser mühsamen Arbeit. Bis mich eines Abends mein Vater zu sich rief und mir mitteilte, dass auch ich mit zwölf Jahren alt genug sei, um eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Ab sofort wurde ich also zum Steine schleppen und Mörtel anrühren verdonnert.
Wer Thomas Anders kennt, der weiß, dass diese Arbeit und ich in keiner Form
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