101 - Das Narbengesicht
Seitenwände des Schreins wegklappen. Jetzt lag der Kopf frei. Ein merkwürdiges Leuchten ging von ihm aus. Er war anscheinend aus Keramik gefertigt und besaß Lebensgröße. Er zeigte ein Frauenantlitz mit kirschroten Lippen, deren Lächeln erstarrt war. Über den schmalen Schlitzaugen wölbten sich die rasierten Augenbrauen. Das ebenholzschwarze Haupthaar lag eng am Kopf und war über der Stirn gescheitelt. Die Oberfläche des Kopfes schimmerte wie Glas.
„Wir verneigen uns vor dir", flüsterte Jesse ergriffen.
Plötzlich empfingen alles Freaks, die im Keller versammelt waren, beruhigende Impulse. Die Aura ging ohne Zweifel von diesem Frauenkopf aus. Er machte sie für die Botschaft aus dem Nichts empfänglich. Doch bevor die Freaks die Nachricht des Kopfes empfangen konnten, zuckte Jesse zusammen. Er brüllte wie ein sterbendes Tier. Die beruhigenden Impulse verwandelten sich in Panikwellen.
Die Freaks wälzten sich am Boden.
Der Kopf lächelte noch immer, doch aus der halslosen Unterseite strömte ein dunkler Blutschwall. „Das ist ein böses Omen!" rief Jesse. „Tretet näher, meine Brüder. Der Kopf will uns seine Prophezeiung verkünden."
Während die Freaks näher schlurften, kroch Niko Ichi tiefer in die dunkle Kellernische. Sie hatte es aufgegeben, Nara um Hilfe zu bitten. Ihr Verlobter war nicht mehr der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Als sie das Rauschen von Wasser vernahm, verdoppelte sie ihre Anstrengungen. Sie schob eine schwere Tonne zur Seite. Dahinter gähnte ein schwarzes Loch. Das Wasserrauschen wurde deutlicher. Anscheinend ein Kanal, dachte sie und zwängte sich durch die Öffnung.
Lieber sterbe ich, durchzuckte es sie, als noch länger in der Gewalt dieser höllischen Kreaturen zu bleiben.
„Leb wohl, Nara", flüsterte sie. Darin ließ sie sich fallen. Eiskaltes Wasser riß sie in einen dunklen Schlund. Die erleuchtete Schachtöffnung verschwand hinter ihr, und das Geschrei der Freaks brach ab.
Jesse hatte Nikos Verschwinden bis jetzt nicht bemerkt.
Der Anführer der Freaks stand vor dem Schrein. Der schwärzliche Blutstrom schien nicht versiegen zu wollen. Vor dem Altar breitete sich eine Lache aus, und die Freaks streckten sehnsüchtig die Hände danach aus.
Da bewegten sich die Lippen des Kopfes. Jeder konnte die Worte deutlich hören.
„Hütet Euch vor dem Schwarzen Samurai! Er ist Euer Feind. Er wird keinen von Euch verschonen. Hütet Euch vor dem Gesicht der Mujina! Sein Schwert Tomokirimaru wird Euch in tausend Stücke schlagen. Tomokirimaru zerschneidet Stein wie Fleisch, denn Tomokirimaru ist das Schwert aller Schwerter. Hütet Euch vor dem Schwarzen Samurai!"
Die Lippen des Kopfes lächelten verbindlich. Auf den glasierten Zügen des Gesichts spiegelte sich kein Gefühl wider. Jesse sah, daß der Blutstrom versiegte. Wortlos verschloß er den Schrein.
Er wußte, wo sich das Schwert Tomokirimaru befand. Wenn er dem Schwarzen Samurai zuvorkommen wollte, mußte er sich beeilen.
Auf Castillo Basajaun herrschte bedrückte Stimmung.
Daran konnte auch die Frühlingssonne nichts ändern, die über den Bergen des Valira del Norte leuchtete. Abraham „Abi" Flindt, der blonde Däne, Virgil Fenton, der jungenhafte Amerikaner, und die hübsche Blondine Ira Marginter hatten sich in der Telefonzentrale des Kastells getroffen.
Abi Flindt war seit Dorians Ende noch verschlossener als zuvor. Um seine Mundwinkel hatte sich ein harter Zug gebildet.
„Ich hasse Coco Zamis!" preßte der breitschultrige Däne hervor. „Ich hasse dieses Teufelsweib. Sie hat den Dämonenkiller auf dem Gewissen."
Flindt wollte einen tiefen Zug aus seiner Aquavitflasche nehmen, doch Virgil Fenton nahm ihm die Flasche weg.
„Du hast genug getrunken, Abi. Damit änderst du auch nichts. Sieh den Tatsachen gefaßt ins Auge. Mehr kann niemand von uns tun."
Flindt wischte herumliegende Notizblätter vom Tisch.
„Ich begreife eure Haltung nicht!" stieß er fassungslos hervor. „Der Dämonenkiller ist tot, und ihr geht zur Tagesordnung über, als sei nichts geschehen."
„Bedeutet der Tod des Dämonenkillers nicht immer wieder einen neuen Anfang?" meinte Ira Marginter nachdenklich.
„Würde Dorian wieder existieren", rief Abi heiser, „dann hätte er längst Kontakt mit uns aufgenommen. "
Virgil Fenton konnte sich am besten in Flindt hineinversetzen. Er wußte, daß der Däne den Dämonenkiller verehrt hatte. Dorian Hunter war für ihn so etwas wie ein Lehrmeister gewesen. Ihr gemeinsamer Haß
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