1020 - Doriel
gehabt.
Aber wenn er sich an Bilder erinnerte, die Engel zeigten, dann kam ihm dieser Vergleich schon in den Sinn. Dieses weiche Gesicht, die sehr helle Haut, die langen Wimpern, das runde Kinn, der Mund mit den wohlgeformten Lippen, das alles paßte wunderbar auf die Beschreibung eines himmlischen Wesens.
Nur wollte er nicht so recht daran glauben. Engel, Glaube, Kirche, das alles war ihm suspekt. Damit hatte er nur als Kind zu tun gehabt, aber es auch da schon nicht gemocht. Später, als Erwachsener, hatte er sich völlig abdrängen lassen. Da war er dann seinen eigenen Weg gegangen, und der stimmte nicht mit dem der meisten anderen Menschen überein. Er hatte Jobs angenommen, die nicht eben als gesetzestreu anzusehen waren. Man konnte ihn und seine Kumpane engagieren, um irgendwelche Probleme aus der Welt zu schaffen. Das hatte ja ihr Auftraggeber getan, aber nun wußte Marvin nicht weiter.
Jesse hieß der Blondhaarige. Er schaute von der Seite zu, während sich der Westenträger Dave im Hintergrund hielt. Jesse merkte schon, daß Marvin mit einigen Problemen zu kämpfen hatte. Wahrscheinlich war er selbst von diesem Anblick überrascht worden, und er fragte deshalb: »Weißt du nicht, wie es weitergehen soll?«
»Nein. Oder ja, verdammt…«
»Hat denn unser Auftraggeber nichts gesagt, Chef?«
Marvin trat vom Sarg weg und blieb neben dem Erdhügel stehen. »Das ist es ja, was mir Probleme bereitet. Er hat nichts gesagt, gar nichts. Wir stehen praktisch auf dem Schlauch. Wir haben den Sarg ausbuddeln sollen. Okay, das ist passiert. Wir haben ihn auch geöffnet, alles wunderbar.«
»Darf ich mal was anderes fragen?« flüsterte Dave, dem die Sache ebenfalls nicht geheuer war.
»Raus damit!«
»Hat unser Geldgeber nichts von der Leiche erwähnt? Hat er nicht erzählt, wen wir da im Sarg finden werden?«
»Überhaupt nicht.«
»Scheiße. Was hätten wir dann überhaupt machen sollen, nachdem wir den Sarg geöffnet haben?«
»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Marvin. »Dafür haben wir das Geld bekommen.«
Jesse mußte lachen. Er hörte sich nicht lustig an, sondern eher häßlich kichernd. »Dann ist doch alles klar. Das Grab ist offen, wir haben den Sarg hervorgeholt, und wir könnten eigentlich jetzt von dieser verdammten Insel verschwinden - oder?«
Marvin sah Jesses Blick schon provozierend auf sich gerichtet. »Im Prinzip hast du recht.«
»Warum tun wir es dann nicht?«
Das wußte Marvin selbst nicht. Sie hätten zum Ufer gehen und in ihr Boot steigen können. Ihr Auftrag war erledigt. Aber sie taten es nicht. Sie blieben statt dessen stehen, starrten den Toten an, hingen ihren Gedanken nach und fühlten sich alle drei mehr als unwohl. Die Insel sah zwar völlig normal aus, aber sie hatte etwas an sich, das andere Inseln dieser Art nicht besaßen.
Schon beim Betreten hatten sie den Eindruck gehabt, daß hier etwas lauerte, mit dem sie nicht zurechtkamen. Es war nicht zu sehen, sondern nur zu fühlen gewesen. Da hätten sie nicht einmal sehr sensibel zu sein brauchen. Einiges stimmte hier nicht. Es war eine trügerische Ruhe, und grundlos hatte sich Marvin vorhin nicht so schnell umgedreht und hoch zum Kamm geschaut.
Wurden sie beobachtet? Kontrolliert? War die Insel so etwas wie eine Falle für sie? Logisch war es für Marvin nicht. Warum hätte ihr Auftraggeber sie in eine Falle locken sollen?
Er schaute wieder die Leiche an. Das Wesen, und das war es für ihn jetzt, lag noch immer so da, wie sie es gesehen hatten. Der Tote rührte sich nicht. Starr, wie eingefroren. Nichts bewegte sich in seinem Gesicht. Etwas anderes hätte man von einer Leiche auch nicht verlangen können.
Er schüttelte den Kopf. Das waren Gedanken, die ihm sonst nie gekommen waren. Auch seine beiden Helfer waren ziemlich stumm geworden. Sie umstanden den Sarg und starrten nur in ihn hinein.
Mit jeglichen Kommentaren hielten sie sich zurück.
Dave zupfte an seiner Weste. »Wenn es nach mir geht, können wir jetzt verschwinden. Ich habe nichts gegen Tote, aber Typen wie er hier, die gefallen mir nicht.« Er verzog den Mund. »Der sieht ja irgendwie furchtbar und trotzdem normal aus.« Er räusperte sich und schaute die anderen beiden Männer an. »Was meint ihr dazu?«
Sie nickten.
»Obwohl das unlogisch ist«, sagte Jesse. »Wer so lange unterm Torf gelegen hat, muß einfach tot sein.«
»Und verwest«, gab Dave zu bedenken, »falls es stimmt, was man Marvin erzählt hat.«
»Ich habe euch nicht
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