1035 - Die Totenkammer
hatten seine geliebte Frau auf dem Gewissen. In ihnen mußte das Böse stecken, deshalb hatten sie auch sterben müssen. Sie waren Marita etwas schuldig gewesen. Sie hatten sie getötet, aber sie sollten ihr auch das Leben wieder zurückgeben. Die alten Formeln hatten dafür sorgen sollen und…
Seine Gedanken brachen ab. Levine war einfach zu sehr durcheinander. Mit einer mühevoll anmutenden Bewegung hob er seinen Kopf an und drehte ihn so, daß er den Überblick über die Toten erhielt.
Sie waren noch da. Auch Marita, die gewissermaßen den Mittelpunkt bildete. Die Flammen der Kerzen bewegten sich sanft. Sie schaukelten über den Dochten und sorgten dafür, daß dieser Keller eine unheimliche Atmosphäre bekam.
Die Schatten wirkten noch dunkler, wenn sie sich über die Wände bewegten. Das gleiche passierte mit den Lichtreflexen, die immer wieder wie scharfen Säbel in die Schatten hineindrangen und sie zerstörten. Levine überkam der Eindruck daß sie sich verändert hatten. Es wäre kein Wunder gewesen, denn auch er hatte sich verändert. Nach dieser Beschwörung war er nicht mehr der gleiche. Er befand sich im Mittelpunkt eines gewaltigen Taumels. Er glaubte, den Halt zu verlieren. Er schwebte einfach dahin, und vor seinen Augen drehten sich die fünf Körper der von ihm ermordeten Frauen.
Alles hatte sich verändert. Diese Totenkammer war von anderen Kräften in Besitz genommen worden. Aus den gesprochenen Worten war eine unsichtbare und zugleich unheimliche Macht geworden, die hier ihre Zeichen gesetzt hatte und gegen die er allein nicht ankam.
Der Keller war zu einem feindlichen Gelände geworden, in dessen Mittelpunkt sich nicht nur er selbst, sondern auch seine tote Frau befand. Sie mußte er schützen.
Bevor er handelte, schüttelte er den Kopf. »Ich lasse dich nicht allein, Marita«, flüsterte er und wischte den Speichel von seinen Lippen. »Ich bin bei dir. Ich werde dich schützen. Ich habe es gut gemeint, und dabei werde ich auch bleiben.«
Mit einem Tritt schaffte er das Buch zur Seite. Er haßte es plötzlich.
Er wollte es nicht mehr sehen, deshalb hatte er es auch in die dunkle Ecke getreten.
Dann ging er auf Marita zu. Sie war nach wie vor sein Mittelpunkt.
Diesmal noch stärker als in den vergangenen Zeiten. Levine nahm auch keine Rücksicht auf die toten Frauen. Er trat gegen sie und schob zwei Körper zur Seite, um sich selbst den nötigen Platz zu verschaffen.
Vor Marita fiel er in auf die Knie.
Sie hockte auch jetzt und wäre beinahe gefallen, weil Tristan sie angestoßen hatte. Das wollte er nicht und hielt den starren kalten Körper mit beiden Armen fest. So wie er und die Tote auf dem Boden hockten, sahen sie aus wie Vater und Tochter. Wobei der Vater seine Tochter mit allen Mitteln beschützte und mit einer Hand stets über die kalte Wange der geliebten Person strich.
»Ich habe alles für dich getan, Marita. Ich habe die Formeln gesprochen und die uralten Rituale wieder mit Leben erfüllt. Ich will einen Erfolg. Ich weiß, daß es ihn geben muß, verstehst du? Ich will ihn auch haben, ich werde ihn bekommen, so oder so…«
Er redete und streichelte die Tote. Er benahm sich wie jemand, der einen lebendigen Menschen umfaßt hält. Nichts, aber auch gar nichts sollte ihn davon abbringen, seine Frau so zu lieben wie es früher der Fall gewesen war.
Seine hektischen Bewegungen verlangsamten sich. Die Handflächen strichen jetzt zarter über die Haut. Levine brachte sein Gesicht dicht an den Mund seiner toten Frau. Es sah so aus, als wollte er sie küssen. Er hielt sich jedoch zurück.
Dafür hielt er ihren Kopf so fest, daß er ihr ins Gesicht schauen konnte. Für ihn war das Gesicht nicht tot. Es besaß noch die gleiche Schönheit wie früher.
Marita schlief nur – ja, sie schlief…
Es war ein besonderer Schlaf, einer, der ewig sein sollte, was Tristan Levine aber nicht akzeptierte.
Der Professor hatte nicht mitbekommen, daß er immer tiefer in den Kreislauf hineingezogen worden war. Sein eigenes Ich hatte er längst verloren. Er stand bereits auf der Schwelle zum Wahnsinn.
Seine rechte Hand hielt er gegen den Rücken der Toten gestemmt.
Mit der linken stützte er ihren Nacken ab. Marita saß in dieser starren Haltung, denn nur so konnte er sie direkt anschauen.
Die anderen Toten kümmerten Levine nicht. Er wollte einzig und allein mit Marita reden, was er auch tat. Er sprach sie an. Seine Stimme drängte, jedes Wort klang trotzdem gequält.
»Bitte, Marita, du
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