Das Buch Gabriel: Roman
1
Meine Situation hat keinen Namen. Zum einen, weil ich beschlossen habe, mich umzubringen. Und dann, weil ich mir sage:
Es muss ja nicht sofort sein.
Whoosh – durch eine kleine Tür. In einen Limbus.
Nie mehr muss ich ans Telefon gehen oder eine Rechnung bezahlen. Meine Kreditwürdigkeit ist ab jetzt egal. Ängste und Getriebenheiten sind egal. Socken sind egal. Weil ich nämlich tot sein werde. Und wer bin ich, der ich da sterben werde? Ein Mikrowellenkoch. Ein Flugblattschreiber. Ein Produkt unserer Zeit. Ein abgebrochener Student. Ein Gestörter. Ein schlechter Dichter. Ein zweifelnder Aktivist. Ein Schokomilchtrinker und, falls Schoko aus ist, auch ein Erdbeer- und manchmal Bananenmilchtrinker.
In ganz auf Survival of the Fittest ausgerichteten Zeiten nicht der Allerfitteste.
Ach ja … Spiegeln bin ich immer ausgewichen, aber hier, nackt in einem Zimmer mit Waschbecken und Spiegel, riskiere ich einen Blick. Whoosh – der Verräter ist nicht mehr da. Plötzlich bin ich eine Sphinx mit Chorknabenaugen, leuchtend und vulgär wie ein farbübersättigtes altes Porträt in Öl.
Weil ab jetzt alles egal ist.
Wenn es sich vermeiden lässt, sollte man diese Art Eingebung nicht unbedingt in einer Rehaklinik haben.
Im Zuge einer jubilatorischen Anwandlung pinkle ich ins Waschbecken – immerhin: ein Porzellangefäß, das an eine Abwasserleitung angeschlossen ist – und spüle dann mit Wasser aus dem Hahn, was für mein Gefühl von einer gewissen Kultiviertheit zeugt. Wie überhaupt diese letzten Stunden meiner irdischen Existenz Kultiviertheit und Klarheit offenbaren. Beweis dafür sind, dass ich nicht geistesgestört, sondern das Kind guter Menschen bin. Oder zumindest das Kind der Geschichten guter Menschen. Schnell ziehe ich mich an, waschen spare ich mir, darauf kommt es nicht mehr an. Ich nehme mir nur die Zeit, mich am Fenster zu dehnen, und wundere mich. Meine Depression ist weg, in einen Kaninchenbau geplumpst – whoosh . Alles ist whoosh in diesem Limbus. 1 Die Voraussetzung ist natürlich, dass die Entscheidung zu sterben endgültig ist. Was bei mir der Fall ist.
Der Grund dafür ist simpel: Von den vielen Dingen, die ich hätte sein, tun und haben sollen, bin, tue und habe ich exakt null Komma nichts. Ich stehe im an mir zerrenden Sog des modernen Lebens und sehe zu, wie es davonrast. Das klingt jetzt vielleicht pathetisch, aber die Sache ist die: Es ist nicht so, dass mir die innere Kraft fehlt. Innere Kräfte habe ich genug, mehr als genug sogar. Die sind nur noch nie zum Ausdruck gekommen.
Und Kraft, die keinen Ausdruck findet, keine Form, ist sinnloser als gar keine Kraft.
Auf den folgenden Seiten könnte der Eindruck entstehen, ich wollte Ihnen diesen fatalen Weg schmackhaft machen. Tja, das will ich tatsächlich. Denken Sie sich ruhig Ihren Teil zu allem, was Ihnen vorgeführt wird, aber zunächst einmal begreife ich Sie als solidarischen Kollegen. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder bereut es, eine Party zu früh zu verlassen und beim Gehen noch Gelächter aus dem Salon zu hören. So muss sich der Tod anfühlen. Nur ich fühle überhaupt nichts dergleichen; die Party ist nämlich vorbei. Die Flaschen sind leer. Die Fässer spucken Schaum. Unser Shopping-Imperium liegt in seinen letzten, zuckenden Zügen. Bye-bye, ihr freien Märkte, auf Wiedersehen, ihr Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ciao, du unechtes Gelächter, ha, ha, juchhe, juppidu. Die letzten Feiernden sind das Kroppzeug, das immer angerannt kommt, wenn es etwas umsonst gibt, und das jetzt Wein kotzt. Den Spielstand zu erkennen und genau im richtigen Moment auszusteigen, löst in mir kein Gefühl des Bedauerns, sondern Stolz aus.
Adieu denn, Welt von heute, adieu. Eine weitere Gelegenheit, uns zur Selbstbeherrschung fähig und damit der Freiheit wert zu erweisen, ist vertan. Tief im Inneren wissen wir das nur allzu gut; mehr als ein Jahrzehnt lang haben wir bloß die Vergangenheit wieder aufgewärmt, haben unsere hundert besten Augenblicke immer und immer wieder verklärt – wie alte Leute mit ihren Schnappschüssen aus tollen Tagen, die sich unbewusst verabschieden. 2
Und jetzt können Sie zusehen, wie die Lichter im Wunderland langsam ausgehen.
Whoosh. Was für eine Dekadenz, was für ein Niedergang.
Irgendwo draußen plockert ein Ball zwischen Schlägern hin und her. Kommt mir vor wie eine tickende Uhr, die so unregelmäßig geht wie die Echtzeit der Natur. Ich muss von hier verschwinden – schnell, bevor noch jemand
Weitere Kostenlose Bücher