1040 - Madonna auf dem Höllenthron
aus violettem, leicht glänzendem Stoff bedeckte die Beine.
Nicht den Oberkörper. Er lag beinahe frei. Was diese Frau da übergestreift hatte, das hätte der Maler auch weglassen können. Sie trug ein Teil, das der gegenwärtigen Mode sehr entgegenkam, da es aus einem feinen durchsichtigen Stoff gewebt worden war. Changierend und in einer etwas helleren Farbe als der Rock, doch perfekt dazu passend.
Unter dem Stoff schimmerten die Brüste durch, wobei deren Spitzen leicht nach vorn standen oder sich aufgerichtet hatten, als stünde die Frau unter sexuellem Strom.
Ihr Gesicht war streng, eben das einer Herrin. Rote, lockige Haare umgaben es. An der rechten Seite fielen sie bis über die Schulter hinweg und schienen sich mit ihrer letzten Drehung noch um die Brustwarze wickeln zu wollen. An der linken Seite war das Haar mehr zurückgekämmt worden, damit das Gesicht noch klarer hervortrat. Unterstrichen wurde der strenge Ausdruck von den beinahe waagerecht wachsenden Augenbrauen, die dicht über der Nase zusammenstießen. Die Nase war gerade, vielleicht eine Spur zu lang und an ihrem Ende etwas zu breit, als wollte sie die schmale Oberlippe beschirmen. Der linke Arm der Frau lag auf der Lehne des Stuhls, den rechten hatte sie lässig auf ihrem ausgestreckten Bein drapiert.
Julia fühlte sich auch von ihrem Gesichtsausdruck gestört. Hochmut und Arroganz paarten sich darin, aber in den Augen glaubte sie den bösen Blick zu erkennen, was immer es auch bedeuten mochte. So starr, so abweisend und düster, obwohl die Pupillen grünlich waren.
Auch der Thron störte sie. Er war nicht aus kostbaren Hölzern gebaut worden, wie es üblich gewesen wäre. Er bestand aus einem Material, das man durchaus als Gebein oder Knochen ansehen konnte. Wie ein Flechtwerk waren die einzelnen Stücke ineinander verbunden. Bewacht wurde dieser Thron von auf Stangen steckenden Skelettschädeln, die irgendwelchen Schafen gehört haben mußten, denn zu beiden Seiten der Köpfe bogen sich die krummen Hörner ab.
Das war das eine Motiv. Ein unruhiges, böses und düsterwarnendes.
Schon mehrmals war es der Restauratorin kalt den Rücken hinabgelaufen, als sie es betrachtet hatte, und auch jetzt konnte sie sich nicht an dieses Motiv gewöhnen.
Aber es gab noch ein zweites, und das sollte dieses schaurige Gemälde wohl ausgleichen. Der Maler hatte nicht nur das Böse darstellen wollen, er wollte dem Betrachter auch die Gegenseite präsentieren. Sie hatte er in Gestalt eines Mönchs hinterlassen.
Der Mann war am linken Bildrand nur zur Hälfte zu sehen. Er trug eine braune Kutte, die im krassen Gegensatz zu einem schneeweißen Bart stand, der den Mund umwuchs, sich vor den Ohren an den Seiten wie ein Schaumstreifen hochzog und erst am Hinterkopf auslief.
Kopfhaare wuchsen bei diesem Mönch nicht mehr. Dem Maler hatte der Bart gereicht.
Das Gesicht des Mönchs zeigte einen ernsten Ausdruck. Auf irgendeine Art und Weise war es mit dem der Frau verwandt, auch wenn dieser Ausdruck beim Betrachter ganz anders rüberkam. In den dunklen Augen hatte Julia bisher immer eine Warnung gelesen. Die Warnung vor der Person, die hinter dem Mönch auf dem Thron saß.
Beim Betrachten des Gemäldes waren Julia zahlreiche Fragen eingefallen. So überlegte sie, ob der Künstler diese beiden Personen anhand echter Vorbilder gemalt hatte oder sie einzig und allein seiner Phantasie entsprungen waren. Letzteres wollte sie nicht so recht glauben. Sie kannte sich in der Geschichte aus und wußte, daß die damaligen Künstler sehr oft lebende Vorbilder genommen hatten.
Wenn das der Fall war, dann hatte es sowohl die Frau als auch diesen Mönch gegeben.
Wie so oft hatte Julia dieses Gemälde eine Weile betrachtet. Und sie hatte dabei versucht, sich über ihre Gefühle klarzuwerden. Sie waren da, sie waren in die Höhe gestiegen wie die gefärbte Flüssigkeit in einem Thermometer, und sie hatten es geschafft, die junge Frau durcheinanderzubringen.
Warum gerade jetzt? Warum an diesem Abend? Warum nicht schon vor zwei, drei oder mehr Tagen?
Es mußte etwas dahinterstecken, dessen war Julia sich sicher. Die Angst hatte sie nicht grundlos überfallen. Julia versuchte, klar und logisch zu denken. Sie akzeptierte ihren Zustand, aber sie wollte einfach nicht akzeptieren, daß es sie gerade heute so stark erwischt hatte.
Oder lag es an ihrer Arbeit?
Nachdenklich blieb sie stehen und nagte dabei versonnen an ihrer Unterlippe. Sie rekapitulierte noch einmal, wie die
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