1040 - Madonna auf dem Höllenthron
auch negative Erlebnisse zu überwinden.
Die Madonna war keine Madonna. Julia hatte sie auch nie als eine solche angesehen. In Wirklichkeit war sie eine Vampirfrau gewesen.
Eine Blutsaugerin.
Zu diesem Zeitpunkt, wo sie es schaffte, wieder einigermaßen zu denken, stellte sich Julia die Frage, weshalb sie dieser Vampirmund mit den beiden Beißzähnen so erschreckt hatte. Eine Antwort fand sie darauf nicht, noch nicht, aber sie erinnerte sich daran - es lag zudem nicht lange zurück -, daß sie oft genug Vampirbilder oder Plakate gesehen hatte, auf denen diese Wesen abgebildet gewesen waren.
Kinoplakate, Werbung in den Zeitschriften für irgendwelche Gruselfilme, die am Abend oder Tage später liefen. Wie oft hatte sie da die Gesichter der Blutsauger gesehen, und sie hatten oft schauriger gewirkt als die von ihr freigelegte Person.
Warum habe ich jetzt so überzogen reagiert? Eine Frage, die sie beschäftigte und sie nervös machte, denn ihre Finger zitterten, als sie eine Zigarette aus der Schachtel holte, anzündete und den Rauch tief inhalierte.
Durch die Nase ließ sie ihn wieder ausströmen. Sie war noch immer in Gedanken versunken, aber diesmal dachte sie mehr über das Motiv des Gemäldes nach. Auf der einen Seite hockte diese Vampirin auf einem Sessel aus bleichem Gebein. Auf der anderen hatte der Maler diesen Mönch hinterlassen. Möglicherweise um die schlimme Person zu neutralisieren. Das konnte alles gut möglich sein, mußte es aber nicht, und Julia wußte nicht, wie sie es in eine Reihe bringen sollte.
Es ist nur ein Bild! hämmerte sie sich ein. Nur ein verdammtes Bild. Nicht mehr. Aber warum fürchte ich mich dann vor diesem Motiv? Es gibt keinen Grund. Das Bild lebt nicht, die Personen sind nur gemalt, sie sind nicht echt.
Oder doch?
Nicht direkt, sondern indirekt. Hatte es diese Frau tatsächlich einmal gegeben? Und war sie nicht nur der Phantasie des Malers entsprungen?
Wenn ja, dann…
Sie wollte nicht weiterdenken und schrie nur leicht auf, weil die Glut der Zigarettenkippe ihre Haut berührte. Julia warf die Kippe zu Boden und trat sie aus.
Dann stand sie auf.
Diesmal näherte sie sich dem Bild mit vorsichtigen Schritten. Sie sah dabei aus wie jemand, der keinen Fehler begehen wollte. Ihre Turnschuhe hinterließen kaum ein Geräusch. Nur der eigene, aus der Nase strömende Atem war zu hören.
Sie blieb stehen. Sie wünschte sich, daß das Bild wieder normal geworden war.
Nein, das war es nicht.
Diese Madonna auf dem Höllenthron grinste sie scharf an. Ihre beiden Vampirzähne leuchteten dabei aus dem so blutfarbenen Mund hervor.
Widerlich, abstoßend. Julia konnte diese Person einfach nicht mit den gemalten Schauspielern auf den Kinoplakaten vergleichen. Diese hier wirkte so echt, so anders. Die Restauratorin konnte sich plötzlich vorstellen, daß eine derartige Madonna sich bewegte und einfach aus dem Bild hervorstieg.
Möglich war alles. Zumindest im Kino. Da hatte sie mal einen ähnlichen Film gesehen. In der Realität war so etwas sicherlich nicht zu machen.
Das blieb ein reines Phantasieprodukt.
Was tun?
Den Chef anrufen und ihn noch an diesem späten Abend informieren?
Nein, das wollte sie nicht. George Scott hatte mit seiner Galerie Action genug. Außerdem war er vor Mitternacht kaum zu Hause. Die Verpflichtungen gingen vor.
Zwar gehörte er zu den Künstlertypen und war ihrer Meinung nach ziemlich komisch, weil er sich zu gewissen Theorien der Esoteriker hingezogen fühlte, aber er würde sie auslachen, wenn er das Bild sah.
Oder es als noch wertvoller einstufen, was meistens der Fall war, wenn ein altes Bild unter einem neueren versteckt lag.
Bei diesem Gedanken hakte es bei ihr ein. Vielleicht war dieser Vampirmund nicht alles, was noch freigelegt werden konnte.
Möglicherweise verbargen sich noch mehr Überraschungen unter dem sichtbaren Motiv. Da war es besser, wenn sie weitermachte und George erst informierte, wenn sie alles freigelegt hatte.
Alles freigelegt!
Julia wußte, daß es einige Zeit in Anspruch nehmen würde, doch da ließ sie sich nicht beirren. Sie war fest entschlossen, ihrer Aufgabe nachzukommen, und sie wollte auch in dieser Nacht nicht in ihre kleine Wohnung gehen, sondern die restlichen Stunden der Nacht in der Nähe des Bildes verbringen.
Neu war das für sie nicht. In einem kleinen Nebenraum stand eine Liege, auf der sie schon öfter übernachtet hatte. Und eine Waschgelegenheit gab es ebenfalls. Zudem stand immer ein Koffer mit
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