105 - Das indische Tuch
nicht liebenswürdig.
»Ich wollte hier keinen Freundschaftsbesuch machen«, erklärte sie kühl, als er sich vorwurfsvoll über ihr ablehnendes Wesen äußerte. »Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, Sie wollten mich dringend wegen Lady Lebanon sprechen, wäre ich überhaupt nicht gekommen.«
»Aber Isla, wie kann man nur so abweisend und kalt sein! Darf ich Ihnen jetzt Ihren Mantel abnehmen?«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Warum wollten Sie mich sprechen?«
Es fiel ihm außerordentlich schwer, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen.
»Willie Lebanon will Sie heiraten, ist Ihnen das bekannt?«
Sie antwortete nicht darauf.
»Was sagen Sie denn dazu? Sie werden Gräfin Lebanon werden und haben dann den Vortritt vor allen Baroninnen und Angehörigen des niederen Adels. Übrigens brauchen Sie Mylady nicht zu erzählen, daß ich Sie zu mir gebeten habe.«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Warum denn nicht, wenn es sie doch angeht?«
»Es geht sie und mich etwas an – Ihre voraussichtliche Heirat. Es wäre wirklich sehr gut für Sie, Isla. Der junge Lord wird Ihnen sofort einen Teil seines Vermögens überschreiben, vielmehr Lady Lebanon wird das tun. Ihnen scheint aber der Plan nicht zu gefallen?«
»Lady Lebanon hat mir das auch angedeutet, aber ich möchte mich nicht verheiraten. Das habe ich ihr auch klar gesagt.«
Er lachte.
»Ich glaube aber, sie hat sich aus Ihrer Absage nicht viel gemacht. Lady Lebanon ist eine Natur, die sich überall durchsetzt. Man kann sich ihr kaum entgegenstellen, wenn sie ihren Willen durchführen will.«
Er war enttäuscht, daß sie nicht antwortete, und wurde nervös. »Warum ziehen Sie nur Ihren Mantel nicht aus? Wir beide sollten doch zusammenhalten. Lady Lebanon betrachtet uns wie ein paar bessere Dienstboten. Wir bekommen unser Gehalt und müssen unsere wahren Gefühle verbergen –«
»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Wenn nicht, dann gehe ich jetzt.«
Sie wandte sich halb um, aber bevor sie ahnte, was geschehen würde, riß er sie an sich. Er hielt sie so fest, daß sie sich nicht wehren konnte. Sie fühlte seinen Schnurrbart an ihrer Wange, und seine Augen blitzten so unheimlich, daß sie erschrak.
»Isla, niemand in der Welt kann sich mit dir vergleichen«, stieß er atemlos hervor. »Ich möchte dein Freund sein, ich will dir helfen.«
»Lassen Sie mich einen Augenblick los«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.
Er ließ sich täuschen. Kaum hatte er den Griff etwas gelockert, als sie sich plötzlich von ihm frei machte, zu der Wand eilte und den Daumen auf einen kleinen Knopf legte, der unauffällig an der Wand angebracht war.
»Machen Sie bitte die Tür auf und gehen Sie dann in das andere Zimmer.«
Amersham atmete schnell. Er sagte nichts; er wußte, daß er im Augenblick geschlagen war. Wütend riß er die Zimmertür auf, trat in den Vorraum und schloß die Wohnungstür auf.
»Sie können gehen. Es war töricht von mir, daß ich Ihnen helfen wollte.«
Sie zeigte auf die andere Tür am Ende des Wohnzimmers.
»Aber machen Sie doch nicht solche Geschichten. Sie sind vollkommen sicher –«
»Ich bin so lange sicher, wie ich den Daumen auf dem Knopf für Feueralarm habe«, entgegnete sie ruhig. »Und Sie wollen sich doch wohl nicht blamieren? Sie würden eine lächerliche Figur machen, wenn die Feuerwehr hierherkommt!«
Auf dem Balkon stand Sergeant Totty im Dunkeln und nickte befriedigt.
Er sah, daß sich die Wohnungstür hinter Isla schloß, und beobachtete dann die Rückkehr des Doktors in das Wohnzimmer.
»Großartig«, murmelte Sergeant Totty beifällig.
Einige Zeit ging Amersham nervös auf und ab. Dann hörte Totty, daß das Telefon klingelte. Amersham ging zum Apparat und nahm den Hörer ab. Gleich darauf runzelte er ärgerlich die Stirn, sagte etwas, was Totty nicht verstehen konnte, drehte das Licht aus und ging ins Schlafzimmer.
Totty schlich sich auf dem Balkon entlang; die Vorhänge waren von innen vorgezogen, aber es gelang ihm doch, durch einen Spalt an der Seite zu sehen. Auf diese Weise konnte er den Bewegungen Amershams folgen, der eine Schublade aufzog, einen Gegenstand herausnahm und in die Tasche steckte. Was es war, konnte Totty nicht erkennen, aber er vermutete, daß es sich um einen Browning handelte.
Im Schlafzimmer befand sich auch ein Telefonapparat. Der Doktor benützte ihn und sprach etwa zwei Minuten lang. Allem Anschein nach war es ein Haustelefon.
Der Arzt nahm seinen Mantel aus
Weitere Kostenlose Bücher