1059 - Der Scharfrichter
So dachte auch Mary Pinter!
Die Frau lag in ihrem Bett. Die Hände hatte sie auf der Brust liegen und zum Gebet gefaltet.
Sie betete tatsächlich. Nur für sich. Im Innern. Kein Wort drang nach draußen, obwohl sich ihre Lippen bewegten. So versuchte sie, die Angst zu dämmen.
Sie war allein im Haus. Ihr Mann war in die Stadt gefahren, und er würde auch über Nacht nicht zurückkommen. Er wollte in London schlafen, weil er einen wichtigen Termin hatte, der sich nicht verschieben ließ. Mary Pinter wußte nicht, mit wem sich Douglas verabredet hatte. Aber es war sehr wichtig, und es hing mit den unheimlichen Vorfällen zusammen, die in der letzten Zeit geschehen waren.
Das Schlafzimmer war nicht sehr groß. Das Doppelbett paßte hinein, ebenso der Schrank. Die Pinters hatten beim Bau des Hauses auf große Räume verzichtet. Damals hatten noch die Eltern von Mary hier gewohnt. Da hatte eben jeder Platz haben wollen. Jetzt lebten die Eltern nicht mehr, Mary und Doug waren allein, und ihr Sohn Jason hatte sie schon vor einigen Jahren verlassen, kaum daß er achtzehn gewesen war. Er hatte sich in der Welt umschauen wollen. Wo er sich aufhielt, wußten seine Eltern nicht. Hin und wieder erreichte sie eine Ansichtskarte aus allen möglichen Teilen der Welt. Seit einem Jahr war auch dieser Gruß leider ausgeblieben.
Mary wünschte sich gerade jetzt ihren Sohn herbei. Dann wäre sie nicht so allein gewesen. Dieser Wunsch blieb ein Traum, doch der Sturm war leider Realität.
Er war auch nicht so unnormal für diese Zeit. Schon immer hatten die Frühjahrsstürme getobt, und Mary Pinter hatte sich vor ihnen nie gefürchtet.
Bis jetzt!
In dieser Nacht war es anders. Da verglich sie ihn mit einem wilden, bösen Tier, das zugleich nur so etwas wie eine Vorhut für ein noch viel schlimmeres Phänomen war.
Es hatte sich etwas verändert im Ort. Menschen waren verschwunden. So schnell, so plötzlich. Einfach aus dem Leben fortgerissen worden. Als hätte es sie nie gegeben.
Sie waren nie wieder aufgetaucht. Keiner wußte, ob sie noch lebten oder tot waren.
Aber auf dem Friedhof hatte es frische Gräber gegeben. Aufgewühlte Erde, die rasch wieder geschlossen worden war. Jeder wußte davon, aber kaum einer sprach darüber. Man umging das Thema. Man machte sich seine Gedanken, aber man würde sich davor hüten, die Gräber zu öffnen. Das hätte niemand fertiggebracht.
War Douglas deshalb gefahren? Wußte er mehr? Möglicherweise, denn er hatte sich schon immer für die Vergangenheit interessiert.
Gerade was diesen Ort hier anging, der auch seine Geschichte hatte wie jedes Dorf und jede kleine Stadt. Zudem saß Douglas an der Quelle. Er war von Beruf Küster. Er unterstützte den Pfarrer, den es seit zwei Monaten nicht mehr gab, denn auch er war verschwunden.
Mary Pinter atmete tief durch. Ihr Entschluß stand fest. Sie ließ sich auch nicht abbringen, denn sie ahnte, daß ihr Mann etwas herausgefunden hatte. Das mußte der Grund seiner plötzlichen Reise gewesen sein.
Fragen hatte sie nicht gestellt oder nicht mehr. Wenn sie Doug auf ein gewisses Thema ansprach, hatte er nur geblockt und den Kopf geschüttelt. Er war oft in der Kirche gewesen, allerdings auch auf dem Friedhof. Das hatte er zwar nie zugegeben, doch an seinen Schuhen war genügend Lehm zurück geblieben, der nur vom Friedhof stammen konnte.
In der letzten Minute war es still geworden. Der Sturm hatte eine Pause eingelegt. Er säuselte nur mehr sanft um das Haus; bis er plötzlich zuschlug.
Mit einer grenzenlosen Macht toste er heran. Er fuhr um das Haus herum, er fing sich am Dach, und Mary lauschte den schrillen und auch klappernden Lauten nach, die er verursachte.
Er fauchte. Er tobte. Er schien sich geteilt zu haben. Er klopfte gegen die Eingangstür und umbrauste zugleich die Fenster. Er war einfach nicht zu stoppen und griff die Bäume an, um sie unter seine Gewalt zu bekommen. Er bog die Zweige, er rüttelte an den Ästen, er schleuderte das Laub vom Komposthaufen in die Höhe. Er fegte Latten vor sich her, die nicht fest genug im Boden standen, und fuhr mit gewaltigen Händen unter die Pfannen auf den Dächern, als wollte er testen, welche leicht zu lösen waren.
Nicht alle saßen fest. Manche rutschten aus dem Verbund hervor, schlugen dann auf der Straße auf, auf der sie krachend zersplitterten. Nicht alle Häuser waren so stark gebaut, um den Kräften widerstehen zu können. Bei den Pinters war noch nichts passiert. Erst im letzten Jahr
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