1059 - Der Scharfrichter
holen. Von jedem einzelnen, der mich betrogen hat.«
Mary Pinter verstand die Welt nicht mehr. Schulden? Nein, weder sie noch ihr Mann hatten Schulden. Aber das schien der andere auch nicht gemeint zu haben. Er war ein Scharfrichter, einer, der andere Menschen tötete, der sie richtete und ihnen den Kopf abschlug.
Als ihr dieser Gedanke kam, senkte sie zugleich den Blick und schaute auf seine Hüfte.
Dort steckte das Beil.
Er hatte den hölzernen und leicht gebogenen Griff in das Seil verschlungen, damit die Waffe nicht nach unten rutschen konnte. Eine breite Klinge, deren Metall Schmutzspuren zeigte, aber an gewissen Stellen auch verdammt blank war – und auch scharf.
Damit konnte einem Menschen mit einem Schlag der Kopf vom Körper getrennt werden. Das war die Aufgabe des Scharfrichters, und Mary dachte trotz ihrer Angst logisch. Sie wußte, daß dieser Unhold nicht grundlos in ihr Haus eingedrungen war. Er wollte sie holen. Er würde sie mitnehmen, sie würde ebenso verschwinden wie die anderen.
Köpfen!
Ein Begriff, an den sie in ihrem bisherigen Leben niemals gedacht hatte. Den Kopf abschlagen, irgendwohin werfen und den Körper dann vermodern lassen.
Die Vorstellung war schrecklich. Mary Pinter merkte, daß sie nahe daran war, zusammenzubrechen. Die Knie wurden weich. Das Zittern überkam sie, und die Umgebung verschwamm allmählich vor ihren Augen wie eine weiche Zeichnung.
Der Scharfrichter löste sich auf. Er verwandelte sich dabei in eine Welle, die aber wieder zusammenlief, so daß Mary ihn klar und deutlich sehen und auch hören konnte.
»Ich hole mir meinen Lohn. Man betrügt mich nicht. Ich werde immer ausgezahlt.«
Mit Marys Beherrschung war es vorbei. Sie schaffte es nicht, eine Frage zu stellen. Die Knie gaben immer mehr nach. Langsam kippte sie nach hinten.
Ich falle! schoß es ihr durch den Kopf. Ich werde gegen den Boden prallen und mir den Schädel einschlagen. Es ist einfach grauenhaft. Ich werde vor ihm liegen, und er wird mir in aller Ruhe den Kopf abschlagen können.
Mary fiel nicht zu Boden, denn die Wand hielt sie auf. Ihr Körper berührte sie. Die Frau erhielt einen neuen Halt.
Sie starrte den Scharfrichter an.
Er kam auf sie zu.
Er ging und schwebte zugleich. Zumindest hörte sie nichts von ihm. Er war so irreal, nicht zu verstehen, und dann holte er aus. Mit der Faust, nicht mit dem Beil, denn das ließ er stecken.
Die Faust raste auf ihr Gesicht zu.
Sie traf!
In Mary Pinters Kopf explodierten die Gedanken, die Gefühle, einfach alles. Sie sah die berühmten Sterne aufblitzen, und sie hatte das Gefühl, wegzufliegen.
Alles war anders geworden. Die normale Welt gab es für sie nicht mehr. Der Schlag hatte ihr Bewußtsein ausgelöscht. Sie bekam auch nicht mehr mit, daß die starken Arme des Scharfrichters sie auffingen. Grinsend und wissend schaute er auf sein Opfer nieder, das er dann mit einer lockeren Bewegung über seine Schulter wuchtete wie einen Sack Mehl. Und so blieb sie auch liegen, als er das Haus verließ und mit schnellen Schritten in die Dunkelheit hineinging…
***
»Ich danke Ihnen noch einmal dafür, daß sie mich empfangen haben«, sagte Doug Pinter und verneigte sich vor dem Mann in dunkelgrauem Anzug und dem ebenfalls dunklen Hemd. Vor der Brust hing ein schlichtes Kreuz aus Holz. Holz und Leder waren die vorherrschenden Materialien im Arbeitszimmer des Bischofs, der seinen Besucher anlächelte und davon sprach, daß ihm wohl ein Whisky guttun würde.
»Ja, Sir, da haben Sie recht.«
»Dann nehmen Sie erst einmal ihren Platz ein. Sie haben mir schon am Telefon berichtet, was bei ihnen in Mayne geschehen ist. Deshalb können wir die Sache ruhig angehen.«
»Pardon, Sir, ich nicht. Ich… ich … leide unter der Angst. Seitdem unser Pfarrer verschwunden ist …«
»Ich weiß. Es bereitet auch mir Probleme. Aber so schnell bekommen wir keinen Ersatz.«
»Darum geht es auch nicht.«
»Bitte, setzen Sie sich.«
Pinter drückte sich in den Sessel mit der hohen Lehne hinein. Das Leder war angenehm warm. Er schämte sich, daß seine feuchten Handflächen Flecken auf dem Material hinterließen, und legte die Hände deshalb auf seine Oberschenkel.
»Den Whisky mit oder ohne Soda?«
»Pur, bitte.«
»Sehr gut, auch ich trinke ihn so.« Bischof Crayton lächelte. Er war schon älter, über Sechzig. Sein Haar war dünn und schütter geworden. Er hatte es glatt nach hinten gekämmt. Dadurch wirkte die Stirn noch höher und der Rest des Gesichts
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