1081 - Die Mutprobe
jetzt freigeben, damit du dich auf deine erste Tat vorbereiten kannst. Du wirst eine Frau umbringen, die mich stört. Sie ist etwas Besonderes. Sie hat es geschafft, in meinen Bereich einzudringen, und das kann ich nicht zulassen. Sie merkt, daß ich auf dem Weg bin. Sie heißt Milena Kovac. Merke dir den Namen gut, mein Freund.«
»Ja, ja!« Er nickte wie ein Huhn, das dabei war, irgendwelche Körner aufzupicken.
»Das lobe ich mir, mein Freund. Geh jetzt. Du bist frei. Und denke immer daran, daß ich stets in deiner Nähe bin…«
Mike Warner ging nicht. Er blieb noch auf dem Grab stehen. Er konnte es nicht glauben. Sein Atem sollte sich beruhigen, und sein Herzschlag ebenfalls.
Nach einer Weile traute er sich, den rechten Fuß anzuheben. Er hatte Mühe, ihn aus der feuchten und lehmigen Erde zu zerren, aber es gelang ihm.
Das linke Bein bekam er ebenfalls bald frei. Dann reagierte er wie jemand, der einen Schlag in den Rücken bekommen hatte. Mit einem Sprung verließ er die Grabfläche. Danach wunderte er, sich, daß er plötzlich wieder den normalen Boden unter den Füßen hatte. Geduckt blieb er stehen und drehte sich mehrmals um.
Es war keiner da. Nur der Nebel. Auf dem Grab lag seine einsam brennende Lampe.
Das war alles.
Mike drehte sich wieder der Grabstätte zu. Er nahm die Lampe an sich. Er schaute auch dorthin, wo er gestanden hatte und beinahe in die Tiefe gezerrt worden war.
Da war nichts mehr zu sehen. Es gab keine Spuren, keine Abdrücke, einfach nichts. Von innen her mußte das Grab an der Oberfläche wieder zugewachsen sein.
Er ging zurück. Sein Gesicht war zu einer Maske geworden. Alles schien eingefroren zu sein. In den Augen lag ebenfalls eine Starre, die neu für ihn war.
Schrittweise ging er zurück. Weg vom Grab, das allmählich aus seinen Blick entschwand, weil sich die grauen Nebelschwaden gespenstergleich dazwischen schoben.
Er drehte sich, ging weiter, doch es glich mehr einem Taumeln und sehr unsicherem Gehen. Schritt für Schritt kam er voran. Er rutschte zweimal aus, konnte sich aber halten. Mike war völlig durcheinander. Hätte ihn jetzt jemand gesehen, er hätte ihn für einen Betrunkenen gehalten, der etwas Helles in der Hand hielt, das auf- und niederschwang.
Die Richtung war okay. Er bewegte sich auf das Ende des Friedhofs zu, wo sich nicht nur die Mauer befand, sondern auch das steinerne Bogentor. Er konnte es nicht sehen, weil die Nebelwand zu dicht war, aber er schaffte es, den Ausgang zu erreichen, auch wenn er mit der Schulter an einer Steinwand entlangschrammte.
Noch immer torkelte er umher und starrte in den Dunst.
»Hast du mich vergessen? Ich hoffe nicht. Denk daran, du hast es geschworen…«
»Haaaa…!« Wieder brüllte Mike auf, denn die dumpfe Stimme war wie ein Donner über den Friedhof hinweggerollt. Warner riß die Arme hoch wie jemand, der seinen Kopf vor Angriffen schützen will. Er bewegte sich wieder hin und her, duckte sich und hörte die Stimme noch einmal.
»Denk an deinen Schwur, mein Freund. Denk daran…«
Jedes Wort erwischte ihn wie ein Hammerschlag. Er duckte sich und lief bis zur Friedhofsmauer.
Dort trommelte er mit den Fäusten gegen das rauhe Gestein.
»Ja, ja, ich erfülle ihn. Ich erfülle den Schwur!« brüllte er in Nacht und Nebel hinein, ohne allerdings eine Antwort zu erhalten…
***
Auf den letzten Metern wäre Mike Warner beinahe vom Rad gefallen, so fertig war er. Aber er hatte den weiten Weg trotz des Nebels recht gut geschafft und war am Haus seiner Mutter angelangt.
In seine Studentenbude wollte er nicht zurück. Mit Mandy Mannox und Ruben Moreno lebte er dort in einer Wohngemeinschaft zusammen, zu der noch andere Mitglieder gehörten. Ruben und Mandy hätten ihn nur ausgefragt, und das wollte er vermeiden. Außerdem hätten sie ihm die Wahrheit sowieso nicht geglaubt, und von seinem Schwur durfte er ihnen auf keinen Fall etwas sagen.
Seine Eltern waren geschieden. Die Mutter des Studenten arbeitete hin und wieder als Nachtschwester, wenn Not am Mann war. Tagsüber war sie Telefonistin, und er wußte, daß sie in dieser Nacht wieder im Krankenhaus hockte.
Deshalb war die Gelegenheit günstig!
Den Schlüssel zur Haus- und auch zur Wohnungstür besaß er noch. Der Bau war nicht mehr neu.
Irgendwann in den Dreißigern hatte man ihn errichtet, aber zwischendurch renoviert, und so ließ es sich auch in diesem Haus leben.
Er schloß die Tür auf und schob sich hinein in den breiten gefliesten Flur, in dem es
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