1081 - Die Mutprobe
stellte dabei fest, daß er ziemlich steif geworden war.
Den Weg um das Grab kannte er schon. Er wollte ihn wieder gehen, um seine Glieder geschmeidiger zumachen, aber er kam nur zwei Schritte weit.
Etwas irritierte ihn.
Etwas hatte sich verändert!
Er wußte nicht, was es war, aber die innere Warnung war nicht zu überhören.
Er ging wieder zurück und blieb an der gleichen Stelle stehen, wo er zuvor gesessen hatte. Auch hier war es spürbar. Wie ein Kribbeln, das seine Füße erreichte und bis hoch zu den Knöcheln glitt.
Warner war irritiert. Noch spürte er keine Angst, aber er schaltete das Licht der Lampe ein. Es bohrte sich dem Boden entgegen und glitt dann über das Grab hinweg, als er die Lampe drehte.
Die verwilderte Fläche kannte er, die Vase ebenfalls, aus der noch zwei Rosen hervorstachen. Er leuchtete auf den Grabstein, an dem sich ebenfalls nichts verändert hatte, und trat wenig später den ersten und dann den zweiten Schritte vor.
Dann stand er auf dem Grab!
Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, wo er seinen Platz gefunden hatte. Nicht die Tatsache erschreckte ihn, daß er auf dem Grab des verstorbenen Pretorius stand, nein, er wurde nur fahrig, als er daran dachte, daß er einfach nicht mehr wußte, was in den letzten Sekunden passiert war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er das Grab betreten hatte. Ein kurzer Blackout, als wäre ihm das Gedächtnis geraubt worden.
Der Student atmete schwer. Über seinen Rücken rann es kalt hinweg, und er überlegte, was er tun sollte. Einfach stehenbleiben und abwarten?
Das wäre eine Möglichkeit gewesen, doch darauf wollte er sich nicht einlassen.
Er schaute nach unten. Direkt vor seine Füße.
Es hatte sich nichts verändert. Nach wie vor sah er die weiche Erde und auch die dünnen Dunstschwaden, die sich lautlos darüber hinwegbewegten. Sein Herz schlug schnell. Er preßte die Lippen zusammen und atmete nur durch die Nase. Das Blut war ihm in den Kopf gestiegen, und wieder tat er etwas, ohne es selbst zu wissen. Diese Sekunden des Blackouts setzten sich fort.
Als er wieder klar denken konnte, fand er sich auf dem Grab sitzend wieder. Mit dem Rücken berührte er den hohen Grabstein und hatte seine Beine jetzt ausgestreckt.
Das klare Denken wurde von der Angst überdeckt. Er fürchtete sich vor den Dingen, die zwar vorhanden waren, die er jedoch nicht in den Griff bekam. Er konnte sie nicht fassen. Sie waren nah, aber sie waren auch sehr weit entfernt, und er merkte, wie er immer unsicherer wurde. Dieser Ort war ihm nicht geheuer. Er fürchtete sich vor gewissen Dingen, die er nicht unter Kontrolle hatte und nicht beeinflussen konnte.
Sekunden verstrichen. Die Lampe hatte er diesmal nicht ausgeschaltet. Der Strahl wies nach links über den Grabrand hinweg und wurde vom Nebel verschluckt.
»Willkommen bei mir, junger Freund!«
***
Die Stimme, die verdammte Stimme! Sie war da, er hatte sich nicht geirrt. Mike Warner riß den Mund auf, um zu schreien, doch es drang kein einziger Laut hervor.
Er blieb stumm auf seinem Platz hocken und hielt die Augen weit offen. Er atmete auch nicht, nur in seinem Kopf hallte das Echo dieser dumpfen Stimme wider.
Die Stimme aus dem Grab! Die Stimme, die einem längst Verstorbenen gehörte, dessen Körper nur noch aus Knochen oder Knochenmehl bestanden. Er hatte zu ihm gesprochen. Er war nicht tot. Er lebte, und er hauste unter ihm in der Tiefe des Grabs.
Mike Warner begann zu zittern. So stark, daß seine Zähne gegeneinander schlugen. Es war ihm nichtmöglich, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Jemand wie er wurde fremdbestimmt, und dieser unheimliche Vorgang wollte nicht in seinen Kopf. Das war verrückt, das war der blanke Irrsinn.
Es war eine gewisse Zeit vergangen, und Mike schaffte es wieder, klar zu denken. Er redete sich ein, die Stimme nicht richtig gehört zu haben. Da hatte ihm seine Phantasie einen bösen Streich gespielt.
Nur war dies ihm neu. So etwas war ihm noch nie passiert. Das wollte ihm einfach nicht in den Kopf.
Ich muß weg! dachte er. Ich kann hier nicht länger bleiben. Auch wenn die Stunde noch nicht vorbei ist. Scheiß was auf die verdammte Mutprobe.
Diese Gedanken hatten ihm die nötige Power gegeben, die ihm noch gefehlt hatte. Er gab sich einen Ruck und stand auf.
Nein, er wollte aufstehen, doch das war nicht mehr möglich. Eine andere Kraft hielt ihn fest, die aus zahlreichen Händen zu bestehen schien. Sie war da und trotzdem nicht vorhanden. Er kam nicht
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