1086 - Der Vampir und der Engel
daß sie im Sorgen bereitete, doch sie gab ihm schon einige Rätsel auf. Vielleicht hatte ihm ihr Blut auch nicht geschmeckt. Möglich war alles. Es konnte gut, aber für Vampire verseucht sein. Wenn das stimmte, war er einem Geheimnis auf der Spur, von dem er bisher noch nichts gewußt hatte.
Auf der Plattform zwischen dem normalen und dem Speisewagen blieb er stehen. Hier waren die Zuggeräusche deutlicher zu hören, und so mußte er lauter sprechen.
»Nach dem Speisewagen ist es vorbei mit der Ersten Klasse. Hast du dich in der anderen schon umgeschaut?«
»Nein, ich bin da nicht gewesen. Ich weiß auch nicht, wie voll es dort ist.«
»Dort ist es preiswerter und zumeist besser belegt. Da wird er mehr Beute machen können.«
Estelle atmete tief ein. »Das geht doch nicht so ohne weiteres. Das muß einfach auffallen.«
Bill hob die Schultern. »Drücken wir uns gegenseitig die Daumen, daß York noch nicht zugebissen hat.«
»Und auch den anderen.«
»Das versteht sich.« Der Reporter wandte sich nach links. Er öffnete die Tür zum Speisewagen, die leicht hin und her schwang. Schon auf den ersten Blick war zu sehen, daß der Wagen nicht mehr so stark besetzt war wie noch vor kurzem.
Die Fahrgäste waren wieder in ihre Abteile gegangen. Es waren sogar zwei Tische leer.
Auch hier herrschte das weiche Licht vor, das sich fahnengleich ausgebreitet hatte. Es strich an den Fenstern entlang und berührte die Reisenden, die es sich bequem gemacht hatten. Es gab Männer, die vor ihren Laptops saßen und arbeiteten. Andere lasen Zeitung. An einem Zweiertisch saß eine Frau im roten Pullover, las ein Buch und rauchte dabei eine Zigarette.
Der Ober mit den geschniegelten Haaren kam ihnen entgegen und lächelte ihnen zu. Bill ertappte sich dabei, als er einen Blick auf dessen Mund warf. Er sah normale Zähne. Bei ihm hatte der Vampir noch keine Spuren hinterlassen.
Dann sahen sie Ezra York!
Er saß an einem der hinteren Tische, an dem normalerweise vier Personen ihre Plätze fanden. Der Vampir hockte dort allein und schaute in den Speisewagen hinein. Er mußte die beiden längst gesehen haben, doch er rührte sich nicht.
Estelle Crighton hielt sich hinter Bill auf. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Verdammt, da hinten ist er.«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Und jetzt?«
Bill war für den Augenblick stehengeblieben. »Kein Problem, Estelle. Wir gehen zu ihm.«
Sie atmete scharf ein. »Willst du dich freiwillig in Lebensgefahr begeben?«
»Nein, das nicht. Ich habe doch dich, denn du bist die perfekte Leibwächterin. Dir kann er nichts tun, und ich bin gespannt, ob er es hier bei mir versuchen wird.«
»Himmel, du hast Nerven.«
»Das muß man in meinem Job.« Bill wußte, wie verrückt die Situation war, doch für ihn gab es keinen anderen Weg als den der Konfrontation. Zudem konnte er sich vorstellen, daß Ezra York sie sogar erwartete, sonst hätte er sich nicht so offen an einen Tisch gesetzt, sondern irgendwo versteckt.
»Und was tun wir? Willst du mit deinen geweihten Silberkugeln auf ihn schießen?«
»Darauf wird es letztendlich hinauslaufen. Allerdings könnte ich mir noch etwas anderes denken.«
»Was denn?«
»Ich werde einfach den Eindruck nicht los, daß unser Freund etwas Bestimmtes im Schilde führt. Ich denke sogar an einen Auftrag. Aber das werden wir möglicherweise später herausfinden.«
»Du setzt voll auf mich, wie?«
»Ja.« Bill sagte ihr nicht, daß er sich über das Verhalten des Ezra York wunderte. Seiner Meinung nach war es atypisch für einen Wiedergänger. Er hatte vermutlich für sein Handeln bestimmte Gründe.
Bill spürte die Hand seiner Begleiterin auf dem Rücken. Der menschliche Kontakt gab ihr mehr Sicherheit. Was für Bill nicht neu, aber trotzdem gefährlich war, das erlebte sie jetzt als Premiere, und er vernahm ihren gepreßt klingenden Atem.
Sie gingen normal weiter.
Bill behielt York im Auge. Er saß in aufrechter Haltung am Tisch und hatte vor sich ein Glas Wasser stehen.
Als die beiden stehenblieben, hob York kurz den Blick. Estelle schaute er länger an.
»Können wir uns setzen?« fragte Bill.
»Ja.«
Sie nahmen ihm gegenüber Platz. Bill drückte sich bis an das Fenster. Die junge Frau saß an seiner rechten Seite. Ihr Körper berührte ihn, und er spürte das Zittern. Es war mehr als verständlich, daß die junge Frau aufgeregt war.
Für einen Moment überkam ihn fast der Zwang, die Waffe zu ziehen und York eine Kugel in den Schädel zu
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