1099 - Der Werwolf und die Tänzerin
halten konnte. Dann verwehte auch der letzte Laut, und innerhalb des fast leeren Zuschauerraums trat eine bedrückende Stille ein.
Eigentlich hätte Madeleine Bishop ihren Platz jetzt verlassen können, da sich sowieso nichts tat.
Aber sie blieb. Wie festgewachsen stand sie auf dem Boden, den Kopf wieder normal haltend. Und doch hatte sich meiner Ansicht nach etwas bei ihr verändert. Sie wirkte nicht mehr locker. Die Frau war gespannt. Wie jemand, der ein bestimmtes Ereignis herbeisehnt.
»War das alles?« fragte ich trotzdem.
Jane schüttelte nur den Kopf.
»Was kommt denn noch?«
»Sie hat sich gemeldet.«
»Das habe ich gehört. Und jetzt?«
»Sei doch ruhig!«
Die Tänzerin schrak zusammen. Mit einer scharfen Bewegung drehte sie den Kopf und schaute in den Zuschauerraum hinein. Entdeckt haben konnte sie uns nicht. Trotzdem duckten wir uns hinter die Rückenlehnen der Sitze.
Wir warteten. Ich sah Janes große Augen in meiner Nähe, roch ihr Parfüm und sah auch den halb geöffneten Mund, aus dem der warme Atem strömte.
Beide zuckten wir zusammen, als wir das Heulen hörten. Das war ein anderes Geräusch. Viel lauter, aggressiver. Beinahe schon wütend, und es füllte das kleine Theater bis in den letzten Winkel.
Das Heulen konnte unmöglich von der Frau stammen. Wenn ja, dann mußte sie wirklich ein Phänomen sein.
Ich pfiff auf meine Deckung, weil ich endlich mehr sehen wollte. Aber ich war auch vorsichtig, als ich meinen Kopf hochschob und über die Kante des Sitzes vor mir hinwegschaute.
Der Blick zur Bühne war frei.
Nein, das Heulen stammte nicht von der Tänzerin. Sie stand wie auf dem Sprung. Das rechte Bein nach vorn gestemmt, das linke etwas zurückgenommen. Das Heulen blieb. Ein hoher, ein unheimlicher Laut, der überhaupt nicht enden wollte.
Woher kam er?
Es war unnötig gewesen, sich die Frage zu stellen, denn plötzlich huschte ein Schatten herbei. Außerhalb des hellen Kreises sahen wir die huschende Bewegung. Einen Moment später hatte er den hellen Kreis erreicht und drang in ihn ein.
Überdeutlich war er zu erkennen, und ich hielt den Atem ebenso an wie Jane Collins.
Der Schatten war eine Schnauze. Weit aufgerissen. Sie hätte einem Hund oder einem Wolf gehören können. Wenn das stimmte, mußte das Tier schon übergroß sein.
Selbst die langen und leicht gebogenen Zähne malten sich wie bei einem Scherenschnitt ab. Jane und ich brauchten nicht erst miteinander zu sprechen. Wir wußten, zu wem die Schattenschnauze gehörte.
Zu einem Werwolf!
***
Jetzt ergab das Heulen auch einen Sinn. Die Bestie mußte sich irgendwo hier im Theater aufhalten.
Wahrscheinlich oberhalb der Bühne, denn dort war sie auch in den Lichtschein des Scheinwerfers hineingeraten und hatte sich auf dem Boden abzeichnen können.
»Das war es, John…«
Janes Stimme hatte erleichtert geklungen. Bis zu dieser Sekunde war sie sich wohl nicht sicher gewesen, nun aber wußten wir beide Bescheid. Ich glaubte daran, daß ich mir den Abend nicht umsonst um die Ohren geschlagen hatte.
Noch war ich skeptisch und flüsterte Jane zu: »Ist der Schatten echt? Oder nur eine Projektion?«
»Natürlich ist er echt. Für mich gehört er zu einem lebenden und auch real existierenden Wesen.«
»Ein Werwolf also.«
Jane befürchtete, daß ich mich auf die Jagd machen könnte, und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge, ich verschwinde schon nicht.«
»Ich bin gespannt, was Madeleine jetzt tun wird.«
»Ebenfalls heulen?«
»Warten wir es ab.«
Beide hatten sich nicht bewegt. Der Schatten war ebenso ruhig geblieben, wie die Tänzerin. Sie schienen sich gegenseitig zu belauern. Einer wartete darauf, daß der andere etwas tat, aber das stimmte auch nicht richtig. Madeleine fing an.
Sie schaute auf den Schatten der übergroßen Schnauze. Sie bewegte ihre Arme von hinten nach vorn. Dann kniete sie sich nieder und sah zu, daß sie in die Nähe des Abdrucks kam. Die Arme hatte sie noch immer nicht zurückgezogen. Sie brauchte die Hände noch. So schauten wir zu, wie sie den Kopf und auch die Schnauze des Werwolfs zu streicheln begann. Mit beiden Händen liebkoste sie den Schatten und brachte sich dabei noch näher an ihn heran, so daß sie den Schatten mit ihrem Kopf berühren konnte.
Es war eine schon zärtliche und beinahe verliebte Geste, die sich da zwischen Mensch und Monster abspielte. Beide wußten genau, was sie voneinander zu halten hatten, und für mich zumindest verwandelte sich der Schatten
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