Das Herz des Ritters
Prolog
Askalon, im Königreich Jerusalem
Mai 1192
Wie dicker schwarzer Samt erstreckte sich die stille, mondlose Nacht über der Wüste. Einem Komplizen gleich, breitete sie ihren schützenden Mantel über die schlanke Gestalt, die mit katzengleicher Anmut durch Askalons schmale Gassen huschte. Ihr rußfarbener, hautenger Seidenanzug hüllte sie von Kopf bis Fuß ein und ließ nur die Augen frei, und so wirkte es fast, als wären dem Nachthimmel Beine gewachsen, als sie sich über den vom Krieg verwüsteten, menschenleeren Marktplatz stahl.
Rasch und nach allen Seiten spähend, umrundete sie eine uralte Moschee, lief an einer Reihe von Läden vorbei und eine verwinkelte Straße hinunter. Lautlos trafen ihre Füße auf das Kopfsteinpflaster und den festgetretenen Sand; die wendigen Glieder zeigten keinerlei Anzeichen von Erschöpfung oder Unsicherheit. Ihrer drahtigen Figur und der vollkommenen Verstohlenheit, mit der sie sich bewegte, merkte man nicht an, dass eine strapaziöse mehrwöchige Reise hinter ihr lag, die sie aus den Bergen und der Festung Masyaf zum Wüstenhafen Askalon geführt hatte.
Hier wartete ehrenvoller Ruhm auf sie – oder aber ein unwürdiges Ende.
Denn hier hatte der Anführer der christlichen Ungläubigen, Richard Coeur de Lion, sein Lager aufgeschlagen, und hier sollte der grausame König auch seinen letzten Atemzug tun. Seit seiner Ankunft im Heiligen Land hatte er viele mächtige Anführer beleidigt; man würde nicht feststellen können, welcher von ihnen seinen Tod bestellt hatte, und dem Fida’i, der nun auf der hohen Stadtmauer entlangkroch, um den königlichen Pavillon inmitten der anderen Zelte zu beobachten, war es auch gleich. Wie Konrad von Montferrat zwei Wochen zuvor würde auch Richard von England bald den tödlichen Stich eines Assassinendolches zu spüren bekommen.
Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, doch trotz der späten Stunde schlief der englische König nicht. An den gestreiften Seidenwänden seines großen Pavillons zeichnete sich im Licht einer einzelnen flackernden Kerze sein Schatten ab und verriet, dass Löwenherz allein war und seinen Kopf grübelnd über einen Tisch gesenkt hielt. Wie um der Gefahr zu spotten, hielten sich keine Wachposten vor dem Zelt oder in unmittelbarer Nähe auf. Richards Furchtlosigkeit und Arroganz waren weithin bekannt; in dieser Nacht würden sie ihn ins Verderben stürzen.
Der Fida’i wollte keine Zeit mehr vergeuden. Stumm betete er zu Allah, dann holte er den speziell für diesen Anlass geschmiedeten Dolch hervor. Die jungfräuliche, gebogene Klinge schlüpfte so geräuschlos aus der Scheide, wie sich die Schritte des Assassinen nun dem königlichen Pavillon näherten. Irgendwo bellte ein Hund. Gleich darauf drangen tiefe Männerstimmen durch die Nacht, doch die ernst klingenden Worte waren zu leise gesprochen, um verstanden zu werden. Zwei Ritter näherten sich vom anderen Ende des Lagers Coeur de Lions Zelt. Ihre schweren Stiefel knirschten auf den Bruchsteinen, die den Boden bedeckten; ihre breitschultrigen Umrisse waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen.
Eingehüllt von der pechschwarzen Nacht, beobachtete der Assassine sie, wägte ihre Entfernung und das Risiko von Sieg und Niederlage ab, als König Richard den Kopf hob und aufstand. Der Fida’i entschied, dass ihm noch genügend Zeit blieb, um seinen Plan auszuführen, ehe die Ritter ihn erreichten. Er dachte gar nicht daran, seine eigene Haut zu retten; der Märtyrertod war des Assassinen Lohn. Noch verführerischer als die Verheißung, ins Paradies zu gelangen, war jedoch die Hoffnung, dass ihm diese Tat endlich die Anerkennung von Raschid ad-Din Sinan einbringen würde.
Die meisten fürchteten ihn als den geheimnisumwitterten »Alten vom Berge«, den König der Assassinen, doch der Fida’i, der auf diese Mission geschickt worden war, nannte Sinan schlicht Vater. Es war sein Name, nicht Allahs, den er nun flüsterte, ehe er sich dem Zelt mit Coeur de Lions unbewaffneter Silhouette näherte.
»Ich nehme an, der König hat sich nicht die Mühe gemacht zu erklären, was es so Dringendes gibt, dass er uns mitten in der Nacht zu sich ruft, oder?«
Sebastian, Earl of Montborne, seit Kurzem Offizier König Richards von England im Krieg gegen die muslimischen Ungläubigen, antwortete auf die Frage des Ritters an seiner Seite mit einem Schulterzucken. »Der König ist wach und wünscht einen Bericht über seine Regimenter. Welche Erklärung braucht es da
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