11 - Nie sollst Du vergessen
ich mich erinnere, und Sie fragen sich allmählich, wie diese Exkursionen zum Prozess gegen Katja Wolff mich zur Musik zurückführen sollen. Sie warnen mich. Sie weisen darauf hin, dass der menschliche Geist so leicht nicht nachgibt, dass er mit eiserner Beharrlichkeit an seinen schützenden Neurosen festhält, dass er die Fähigkeit zur Verleugnung und Ablenkung besitzt, und diese Expedition in die Kanzlei Cresswell-Whites sehr gut eine Aktion zum Zwecke der Verschiebung sein kann.
Dann muss es eben so sein, Dr. Rose. Ich weiß nicht, wie ich anders an diese Sache herangehen soll.
Gut, sagen Sie. Hat der Besuch bei Cresswell-White noch irgendetwas anderes ausgelöst, abgesehen von der Episode mit den Kopfschmerzen?
Episode, sagen Sie. Ich weiß, dass Sie das Wort bewusst gewählt haben. Aber ich werde den Köder nicht schlucken. Ich werde Ihnen lieber von Sarah-Jane erzählen. Darüber nämlich hat Bertram Cresswell-White mich aufgeklärt: Über die Rolle, die ich im Prozess gegen Katja Wolff nicht gespielt habe, und die Rolle, die SarahJane Beckett spielte.
19. Oktober, 21 Uhr
»Sie lebte immerhin mit Ihrer Familie und Katja Wolff unter einem Dach«, sagte Bertram Cresswell-White, der den obersten Hefter mit dem Schildchen »Die Krone gegen Wolff« zur Hand genommen und begonnen hatte, die darin befindlichen Schriftstücke durchzublättern, wobei er von Zeit zu Zeit, wenn sein Gedächtnis Auffrischung brauchte, ein paar Sätze nachlas. »Sie hatte ausgezeichnete Gelegenheit zu beobachten, was vorging.«
»Und hat sie was gesehen?«, fragte Libby.
Sie hatte ihren Sessel näher zu meinem geschoben und mir die Hand auf den Nacken gelegt, als wüsste sie, wie es um mich stand, obwohl ich kein Wort zu ihr gesagt hatte. Sanft massierte sie meinen Nacken, und ich wäre ihr gern dankbar gewesen. Aber ich bemerkte die Missbilligung Cresswell-Whites über diese ungeeignete Zurschaustellung ihrer Zuneigung zu mir, und verkrampfte mich wie stets, wenn ich den kritischen Blick eines älteren Mannes auf mir weiß, und noch mehr angesichts seines Missvergnügens.
»Sie hat beobachtet, dass die Wolff sich plötzlich morgens übergab. Jeden Morgen, einen ganzen Monat lang, vor dem Tod des Kindes«, sagte er. »Sie wissen, dass sie schwanger war?«
»Ja, das hat mein Vater mir erzählt«, antwortete ich.
»Hm. Sarah-Jane Beckett konnte praktisch zusehen, wie Katja Wolffs Geduld immer brüchiger wurde. Das Kind - Ihre Schwester - holte sie jede Nacht drei-, viermal aus dem Bett. Sie war ständig übermüdet, und dieser Zustand in Verbindung mit der morgendlichen Übelkeit zermürbte sie. Immer häufiger überließ sie das Kind allzu lang sich selbst. Miss Beckett fiel das auf, weil die täglichen Unterrichtsstunden mit Ihnen in einem Raum stattfanden, der im selben Stockwerk lag wie das Kinderzimmer. Schließlich hielt sie es für unumgänglich, Ihre Eltern darauf aufmerksam zu machen, dass die Wolff ihre Pflichten vernachlässigte. Das führte zu einer Auseinandersetzung, die mit der Entlassung der Wolff endete.«
»Fristlos?«, fragte Libby.
Cresswell-White musste erst in seine Unterlagen sehen, um darauf antworten zu können. »Nein«, sagte er dann. »Man gab ihr einen Monat. In Anbetracht der Situation waren Ihre Eltern sehr großzügig, Gideon.«
»Aber Sarah-Jane hat vor Gericht nichts davon gesagt, dass sie beobachtet hätte, wie Katja Wolff meine Schwester misshandelte?«, fragte ich.
Cresswell-White klappte den Hefter zu. »Miss Beckett sagte aus, dass es zwischen Ihren Eltern und der Wolff zu einem Streit gekommen war. Sie sagte ferner aus, dass Sonia manchmal eine ganze Stunde lang in ihrem Bett lag und schrie, ohne dass die Wolff sich um sie kümmerte. Sie berichtete, am fraglichen Abend habe sie gehört, wie die Wolff das Kind badete. Aber sie hatte ihrer Aussage zufolge nie eine direkte körperliche Misshandlung beobachtet.«
»Und jemand anders?«, fragte Libby.
»Auch nicht«, erwiderte der Anwalt.
»Mein Gott«, murmelte ich.
Cresswell-White schien zu wissen, was ich dachte; er legte den Hefter auf den Tisch und begann beinahe beschwörend auf mich einzureden. »Ein Gerichtsverfahren ist wie ein Mosaik, Gideon. Wenn es für das verhandelte Verbrechen keine Augenzeugen gibt - und so war es in diesem Fall -, dann müssen sich die einzelnen Aussagen der Zeugen der Anklage zu einem Muster zusammenfügen, aus dem sich ein Gesamtbild ergibt. Erst das Gesamtbild vermag die Geschworenen von der Schuld des
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