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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Cresswell-Whites Ton war scharf.
    »Bei mir gemeldet? Nein. Ich habe sie nie wieder gesehen, nachdem sie unser Haus verlassen hatte - nach dem Tod meiner Schwester. Das heißt, ich glaube zumindest nicht, dass ich sie gesehen habe.«
    »Sie glauben nicht ...?« Cresswell-White nahm seine Tasse und stellte sie auf seinem Knie ab. Er trug einen Anzug von gediegener Eleganz - graue Wolle und natürlich maßgeschneidert -, und die Bügelfalten der Hose waren messerscharf.
    »Ich kann mich an den Prozess nicht entsinnen«, erklärte ich ihm. »Ich habe überhaupt keine deutliche Erinnerung an diese ganze Zeit. Große Teile meiner Kindheit verschwimmen im Nebel, und ich versuche augenblicklich, etwas Klarheit zu schaffen.«
    Ich sagte ihm nicht, warum ich mich bemühte, die Vergangenheit wieder einzufangen. Ich vermied das Wort »Verdrängung«, und ich brachte es auch nicht über mich, mehr preiszugeben.
    »Ich verstehe«, erklärte Cresswell-White mit einem flüchtigen Lächeln, das so schnell wieder erlosch, wie es aufgetaucht war. Mir erschien das Lächeln voll Selbstironie, und seine nächste Bemerkung verstärkte diesen Eindruck. »Ach, könnten wir alle wie Sie von den Wassern Lethes trinken, Gideon. Ich würde zweifellos nachts besser schlafen. Darf ich Sie überhaupt Gideon nennen? So habe ich immer von Ihnen gedacht, obwohl wir einander nie begegnet sind.«
    Das war eine eindeutige Antwort auf die Frage, die mich am heftigsten beschäftigt hatte, und die große Erleichterung, die sich bei mir einstellte, machte mir bewusst, wie quälend meine Ängste gewesen waren.
    »Ich habe damals nicht ausgesagt?«, fragte ich. »Beim Prozess? Ich habe nicht gegen Katja Wolff ausgesagt?«
    »Lieber Gott, nein. Ich würde einem achtjährigen Kind niemals so etwas zumuten. Warum fragen Sie?«
    »Gideon ist von der Polizei vernommen worden, als seine Schwester starb«, erklärte Libby an meiner Stelle.
    »Er konnte sich an den Prozess nicht erinnern, aber er dachte, seine Aussage hätte vielleicht zur Verurteilung Katja Wolffs geführt.«
    »Ach so! Ich verstehe. Und jetzt, da sie wieder auf freiem Fuß ist, möchten Sie gerüstet sein für den Fall -«
    »Sie ist frei?«, unterbrach ich.
    »Das wussten Sie nicht? Hat keiner Ihrer Eltern Sie davon in Kenntnis gesetzt? Sie bekamen beide Briefe. Katja Wolff ist seit« - er warf einen Blick in einen der Hefter - »seit etwas mehr als einem Monat auf freiem Fuß.«
    »Nein, ich hatte keine Ahnung.« Ein plötzliches Pochen erwachte in meinem Schädel, und vor meinen Augen flirrte das bekannte Muster leuchtender Sprenkel, das stets ankündigt, dass das Pochen sich zu vierundzwanzig Stunden gnadenlosen Hämmerns auswachsen wird. Nein, dachte ich. Bitte nicht. Nicht gerade hier, nicht gerade jetzt.
    »Vielleicht hielten Ihre Eltern es nicht für nötig, Sie zu unterrichten«, meinte Cresswell-White. »Wenn die Wolff überhaupt vorhat, an jemanden aus dieser Zeit heranzutreten, betrifft das wahrscheinlich eher Ihre Eltern. Oder mich. Oder jemanden, der sie mit seiner Aussage belastet hat.«
    Er setzte seine Überlegungen fort, aber ich hörte nichts mehr, weil das Pochen in meinem Kopf immer lauter wurde und das Flirren zu einem grellen Lichtbogen verschmolz. Mein Körper war wie ein angreifendes Heer, und ich, der eigentlich der Kommandeur hätte sein sollen, war das Opfer.
    Ich merkte, wie meine Füße nervös zu zappeln begannen, als wollten sie mich schnurstracks aus dem Zimmer befördern. Verzweifelt holte ich Luft, und hatte plötzlich wieder das Bild dieser Tür vor mir, dieser blauen Tür am Ende der Treppe, mit den beiden Schlössern und dem Ring in der Mitte. Ich konnte sie sehen, als stünde ich vor ihr, und ich wollte sie öffnen, aber ich konnte die Hand nicht hochheben.
    Libby rief meinen Namen. Das immerhin hörte ich. Ich hob eine Hand und bedeutete ihr, dass ich einen Moment Ruhe brauchte, nur einen Moment, um mich zu erholen.
    Wovon?, fragen Sie und neigen sich näher zu mir her, allzeit bereit, nachzuhaken. Wovon wollten Sie sich erholen? Gehen Sie noch einmal zurück, Gideon.
    Wohin zurück?
    Zu diesem Moment in der Kanzlei von Cresswell-White, zu dem Pochen in Ihrem Kopf. Was löste dieses Pochen aus?
    Dieses ganze Gerede über den Prozess, natürlich.
    Über den Prozess haben wir auch schon früher gesprochen. Es ist etwas anderes. Was wollen Sie vermeiden?
    Gar nichts ... Aber Sie lassen sich nicht überzeugen, nicht wahr, Dr. Rose? Ich soll aufschreiben, woran

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