11 - Nie sollst Du vergessen
Er ist einer der Männer aus dem Haus.
Nicht ein anderer Bekannter von Katja?, fragen Sie. Nicht vielleicht ein Fremder von außerhalb?
Wer denn? Katja hat keine Bekannten, Dr. Rose. Sie verkehrt mit niemandem außer der Nonne aus dem Kloster und einer jungen Frau, die sie hin und wieder besucht. Sie heißt Katie. Und das da draußen in der Dunkelheit ist nicht Katie. Ich erinnere mich nämlich an Katie, großer Gott, ich erinnere mich tatsächlich! Sie ist dick und witzig, und sie kleidet sich fantasievoll. Sie steht in der Küche und erzählt, während Katja Sonia füttert, und sagt, Katjas Flucht aus Ostberlin wäre eine Metapher für einen Organismus, nur sagte sie nicht Organismus, sondern Orgasmus, sowieso das Einzige, wovon sie ständig spricht.
Gideon, sagen Sie mir, wer war der Mann? Sehen Sie sich seine Figur an, sehen Sie sich sein Haar an.
Ihre Hände umschließen seinen Kopf. Und er ist vornübergebeugt. Ich kann sein Haar nicht erkennen.
Sie können nicht? Oder wollen Sie nicht? Wie ist es, Gideon?, können Sie nicht oder wollen Sie nicht?
Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Haben Sie den Untermieter gesehen? Ihren Vater? Ihren Großvater? Raphael Robson? Wer ist der Mann, Gideon?
Ich weiß es nicht!
Dann zog Libby mich noch fester an sich, und griff mit beiden Händen zu, um das zu tun, was jede normale Frau tut, wenn sie erregt ist und ihre Erregung teilen möchte. Sie lachte, so ein atemloses Lachen, und sagte: »Ich kann nicht glauben, dass wir das in deinem Auto tun.« Dann schob sie meinen Gürtel aus der Schließe, öffnete ihn, öffnete die Knöpfe am Bund meiner Hose, griff zum Reißverschluss und hob ihren Mund wieder zu meinem.
Und ich empfand nichts, Dr. Rose, keinen Hunger, keinen Durst, keine Hitze, kein Verlangen. Keine Wallung des Bluts, die meine Lust geweckt hätte.
Ich packte Libbys Hände. Ich musste keine Ausrede erfinden, ich mußte überhaupt nichts sagen. Sie ist zwar Amerikanerin - ein wenig laut manchmal, ein wenig ordinär, eine Spur zu locker, zu umgänglich und zu freimütig -, aber sie ist nicht dumm.
Sie wandte sich von mir ab und setzte sich wieder in ihren Sitz.
»Es liegt an mir, stimmt's?«, sagte sie. »Ich bin dir zu fett.«
»Sei nicht blöd.«
»Nenn mich nicht blöd.«
»Dann benimm dich nicht so.«
Sie drehte sich zum Fenster. Die Scheibe war beschlagen. Von draußen fiel gedämpftes Licht auf ihre Wange. Eine runde Wange, sanft gerötet wie ein reifender Pfirsich. In meiner Verzweiflung - über mich, über sie, über uns beide - sprach ich weiter. »Du bist völlig in Ordnung, Libby, hundert Prozent. Du bist perfekt. An dir liegt es nicht.«
»Woran dann? An Rock? Genau, es liegt an Rock! Daran, dass wir noch verheiratet sind. Daran, dass du weißt, was er mit mir macht, stimmt's? Du kannst es dir denken.«
Ich wusste nicht, wovon sie sprach, und wollte es auch nicht wissen. »Libby«, sagte ich, »wenn du bis jetzt nicht gemerkt hast, dass bei mir etwas nicht stimmt - dass ich eine schwere ...«
Sie sprang aus dem Wagen. Sie riss die Tür auf und knallte sie zu. Sie tat etwas, was sie nie tut. Sie brüllte. »So ein Quatsch! Was, zum Teufel, soll bei dir nicht stimmen, Gideon? Bei dir stimmt alles, verdammt noch mal! Hast du mich verstanden?«
Ich stieg ebenfalls aus, und über die Motorhaube des Wagens hinweg starrten wir einander an. Ich sagte: »Du weißt doch, dass du dir da etwas vormachst.«
»Ich weiß, was ich vor mir sehe. Und vor mir sehe ich dich.«
»Du hast erlebt, wie ich spielen wollte. Du hast in deiner Wohnung gesessen und mich gehört. Du weißt Bescheid.«
»Ist das denn alles, worum es geht, Gid? Diese Scheißgeige?«
Sie schlug mit ihrer Faust auf die Motorhaube, dass ich zusammenfuhr. »Du bist doch nicht die Geige«, schrie sie. »Geige spielen ist etwas, was du tust. Aber doch nicht das, was du bist!«
»Und wenn ich nicht spielen kann? Was geschieht dann?«
»Dann lebst du, Herrgott noch mal! Du fängst an zu leben. Ist das nicht eine Erleuchtung?«
»Du verstehst es nicht.«
»Ich verstehe eine Menge, mein Lieber. Ich verstehe, dass du dich total mit deiner Geige identifizierst. Du hast so viele Jahre immer nur auf dem verdammten Ding rumgeschrubbt, dass dir der Rest deiner Persönlichkeit verloren gegangen ist. Warum tust du das? Was willst du damit beweisen? Meinst du, dein Dad wird dich endlich lieben, wie du's verdienst, wenn du dir die Finger blutig geigst?« Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich
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