11 - Nie sollst Du vergessen
schließlich massenhaft Leute, die ihre Verwandten nicht kannten. Es war, wir ihr Vater verkündet hätte, ein Zeichen der Zeit. »Und du konntest ihn nicht abwimmeln? Bis morgen wenigstens?«
»Ich wollte ihn nicht abwimmeln. Ich möchte wissen, was los ist.«
»Ah ja. Klar.« Sie war enttäuscht. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie sich den ganzen Abend lang um ihn bemühen würde, und in ihrer Naivität gemeint, wenn sie sich gerade jetzt, da er am Tiefpunkt angelangt war, intensiv um ihn kümmerte, würde vielleicht etwas zwischen ihnen entstehen, das tiefer ging, würde es vielleicht endlich zum Durchbruch kommen. Sie sagte: »Fragt sich nur, ob du ihm vertrauen kannst.«
»Wie meinst du das?«
»Naja, ob du darauf vertrauen kannst, dass er dir die Wahrheit sagt. Er ist schließlich ein Bulle.« Sie zuckte die Schultern und schob eine Hand voll japanisches Knabberzeug in den Mund.
Gideon setzte sich. Er zog seine Teetasse zu sich heran, aber er trank nicht. »Es spielt sowieso keine Rolle«, sagte er.
»Was spielt keine Rolle?«
»Ob er mir die Wahrheit sagt oder nicht.«
»Nein? Wieso nicht?«
Gideon sah sie an, als er ihr den Schlag versetzte. »Weil ich niemandem trauen kann. Das wusste ich vorher nicht. Aber jetzt weiß ich es.«
Die Situation wird immer beschissener.
J. W Pitchley alias James Pitchford alias Die Zunge loggte sich aus dem Internet aus und starrte laut fluchend auf den leeren Bildschirm. Da hatte er es endlich geschafft, das Sahnehöschen zu einem Schwatz ins Netz zu locken, hatte sie aber trotz mehr als einer halben Stunde guten Zuredens nicht dazu bewegen können, ihm zu helfen. Dabei müsste sie nur mal kurz in Hampstead aufs Polizeirevier gehen und sich fünf Minuten mit Chief Inspector Leach unterhalten. Aber nein, dazu war sie nicht bereit. Sie müsste lediglich bestätigen, dass sie und ein Mann, den sie nur unter dem Namen Die Zunge kannte, den Abend zusammen verbracht hatten, zuerst in einem Restaurant in South Kensington und dann in einem klaustrophobisch kleinen Hotelzimmer über der Cromwell Road, wo der unaufhörliche Verkehrslärm das schrille Quietschen der Sprungfedern und die Lustschreie übertönte, die er ihr entlockt hatte. Aber nein, sie war nicht bereit, das für ihn zu tun. Obwohl er sie in weniger als zwei Stunden sechsmal zum Orgasmus hochgejagt hatte; obwohl er seine eigene Befriedigung hintan gestellt hatte, bis sie schwitzend und erschöpft auf dem Bett gelegen hatte, ausgepowert von der Lust, die er ihr bereitet hatte; obwohl er jede ihrer schmutzigen Fantasien über anonymen Sex erfüllt hatte. All das, und sie war trotzdem nicht bereit, sich zu melden, weil es »ungeheuer beschämend wäre, einem wildfremden Menschen zu offenbaren, wie ich unter gewissen, außergewöhnlichen Umständen sein kann«.
Ich bin ein wildfremder Mensch, du blöde Kuh, hätte Pitchley sie am liebsten angebrüllt. Es hat dir überhaupt nichts ausgemacht, mir zu offenbaren, was du drauf hast, wenn du richtig heiß bist.
Sie schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging, obwohl er ihr nichts davon mitteilte. Sie schrieb: Man würde meinen Namen verlangen, verstehst du. Und das geht nicht, Zunge. Meinen Namen kann ich nicht preisgeben. Du kennst doch die Sensationspresse. Es tut mir Leid. Ich hoffe, du verstehst meine Situation.
Er hatte vor allem verstanden, dass sie nicht geschieden war. Sie war keine allein lebende, alternde Frau, die dringend einen Mann suchte, um sich zu beweisen, dass sie immer noch wirkte. Sie war eine verheiratete alternde Frau, die den Kick suchte, weil das Eheglück nur noch aus Langeweile bestand.
Es war offenbar eine langjährige Ehe, und die Gute war nicht etwa mit einem Niemand oder Jedermann verheiratet, sondern mit einem Mann, der einen Namen hatte, einem Politiker oder einem Schauspieler oder einem erfolgreichen und bekannten Geschäftsmann. Wenn sie Chief Inspector Leach ihren Namen verriete, würde sich innerhalb der klatschfreudigen Polizeidienststelle sehr schnell herumsprechen, wer sie war. Und es würde natürlich auch irgendeiner Plaudertasche zu Ohren kommen, die sich von einem skrupellosen Journalisten mit Ambitionen auf die Titelseite seines Schmierblatts für Informationen bezahlen ließ.
Diese blöde Kuh, dachte Pitchley erbittert. Diese gottverdammte blöde Kuh, die immer so tat, als könnte sie nicht bis drei zählen! Daran hätte sie doch denken können, bevor sie sich mit ihm im Valley of Kings getroffen hatte. Sie hätte
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