11 - Nie sollst Du vergessen
»Seit wann denn?«
»Ich habe den heutigen Termin abgesagt. Sie kann mir nicht helfen. Ich habe nur Zeit verschwendet.«
»Aber ich dachte, du magst sie.«
»Was bedeutet das schon? Wenn sie mir nicht helfen kann, wozu dann der ganze Quatsch? Sie wollte, dass ich mich erinnere. Ich habe mich erinnert, und was ist das Resultat? Schau mich an. Schau dir das an. Schau her! Glaubst du im Ernst, dass ich so Geige spielen kann?«
Er streckte seine Hände aus, und sie bemerkte etwas, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie war sicher, dass es vor vierundzwanzig Stunden, als er zu ihr gekommen war, um ihr vom Tod seiner Mutter zu berichten, noch nicht dagewesen war. Seine Hände zitterten. Sie zitterten so heftig, wie die Hände ihres Großvaters zitterten, bevor sein Parkinson-Medikament zu wirken begann.
Einerseits freute sie sich darüber, dass Gideon nicht mehr zu der Psychotherapeutin ging. Es bedeutete, dass er sich nicht mehr nur über sein Geigenspiel definierte, und das war gut. Andererseits aber erfüllte sie das, was er sagte, mit kribbelndem Unbehagen. Ohne die Geige hatte er die Möglichkeit zu entdecken, wer er war, aber er musste diese Entdeckung wollen, und er wirkte nicht gerade wie ein Mensch, der darauf brannte, sich auf eine Reise der Selbstfindung zu begeben.
Dennoch sagte sie liebevoll: »Nicht zu spielen, ist doch kein Weltuntergang, Gideon.«
»Es ist der Untergang meiner Welt«, entgegnete er und ging ins Musikzimmer.
Sie hörte, wie er über irgendetwas stolperte und schimpfte. Dann wurde Licht gemacht, und während Libby den Tee aufgoss, hörte Gideon den Anrufbeantworter ab.
»Hier spricht Inspector Thomas Lynley von der Kriminalpolizei«, teilte ein kultivierter Theaterbariton mit. »Ich bin auf der Fahrt von Brighton nach London. Würden Sie mich unter meiner Handynummer zurückrufen, wenn Sie diese Nachricht abhören? Ich muss mit Ihnen über Ihren Onkel sprechen.«
Jetzt auch noch ein Onkel?, dachte Libby, während der Kriminalbeamte seine Handynummer angab. Was würde als Nächstes kommen? Was würde man Gideon noch alles aufbürden, und wann würde er endlich sagen: Schluss jetzt!
Warte bis morgen, Gid, wollte sie zu ihm sagen. Schlaf heute Nacht bei mir. Ich vertreib dir die Albträume, ich versprech es, aber da hörte sie Gideon schon wählen. Und einen Augenblick später begann er zu sprechen. Sie klapperte mit Tassen und Löffeln, als wäre sie mit dem Teekochen beschäftigt, und versuchte zu lauschen, natürlich nur in Gideons Interesse.
»Gideon Davies hier«, sagte er. »Ich habe gerade Ihre Nachricht bekommen ... Danke ... Ja, es war ein Schock.« Es blieb eine Weile still, während er dem Kriminalbeamten zuhörte, dann sagte er: »Es wäre mir lieber, wir könnten das telefonisch erledigen, wenn es Ihnen recht ist.«
Eins zu null für uns, dachte Libby. Wir machen uns einen ruhigen Abend, und dann gehen wir schlafen. Aber als sie die Tassen zum Tisch trug, hörte sie Gideon nach einer Pause wieder sprechen.
»Ja, gut dann, in Ordnung. Wenn es nicht anders geht.« Er gab seine Adresse an. »Ich bin hier, Inspector.« Und damit legte er auf.
Er kam wieder in die Küche. Libby versuchte so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Auf der Suche nach Gebäck zum Tee öffnete sie einen Schrank und entschied sich für einen Beutel japanische Knabbermischung. Sie riss ihn auf und füllte den Inhalt in eine Schale, die sie auf den Tisch stellte.
»Jemand von der Kriminalpolizei«, erklärte Gideon. »Er möchte sich mit mir über meinen Onkel unterhalten.«
»Ist deinem Onkel auch was passiert?« Libby löffelte Zucker in ihre Tasse. Sie wollte eigentlich keinen Tee, fand aber, sie könne jetzt keinen Rückzieher machen, da sie den Vorschlag gemacht hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gideon.
»Meinst du nicht, du solltest ihn anrufen, bevor der Bulle hier aufkreuzt? Nur um nachzufragen, was läuft.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«
»In Brighton, oder nicht?« Libby spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. »Ich hab gehört, wie der Typ sagte, er käme gerade aus Brighton rauf. Auf dem Anrufbeantworter. Als du ihn abgespielt hast.« »Möglich, dass er in Brighton ist, ja. Aber ich habe nicht daran gedacht, nach seinem Namen zu fragen.«
»Wessen Namen?«
»Dem meines Onkels.«
»Du weißt nicht -? Ach so. Na ja. Macht wahrscheinlich auch nichts.« Lediglich eine weitere Eigentümlichkeit in seiner Familiengeschichte, dachte Libby. Es gab
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