11 - Nie sollst Du vergessen
überhaupt nichts Kuchenähnliches da, während bei ihm bestimmt etwas Genießbares im Küchenschrank lag. Sie lotste ihn also nach oben in seine eigene Wohnung und setzte ihn an den Küchentisch, während sie den Elektrotopf mit Wasser füllte und in den Schränken nach Tee und etwas Essbarem suchte, was dazu passte.
Er sah aus wie ein wandelnder Toter. Libby zuckte innerlich zusammen bei dem Vergleich und begann, um ihn zu zerstreuen, von ihrem Tag zu erzählen. Es war wie anstrengende Arbeit, und als sie ins Schwitzen geriet, zog sie, ohne zu überlegen, den Reißverschluss des Oberteils ihrer Ledermontur auf, um es abzustreifen, während sie redete.
Die Zeitung, die sie unter das Leder gestopft hatte, fiel heraus. Und sie fiel genau so, wie sie, wäre es nach Libby gegangen, nicht hätte fallen sollen: mit der Titelseite nach oben. Die Schlagzeilen wirkten, wie sie wirken sollten - sie zogen sofort Gideons Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich zum Boden hinunter und wollte im selben Moment wie Libby die Zeitung ergreifen.
»Lies es nicht«, sagte sie. »Es macht alles nur schlimmer.«
Er sah zu ihr auf. »Was alles?«
»Wozu willst du dich der ganzen Geschichte aussetzen?«, fragte sie, während ihre Hand den einen Rand der Zeitung und seine den anderen packte. »Die wühlen nur alles wieder auf. Das brauchst du doch echt nicht.«
Doch er war so hartnäckig wie sie, und sie wusste, wenn sie ihm die Zeitung nicht ließ, wurden sie sie zerreißen, nicht besser als zwei Frauen, die sich am Wühltisch schlugen. Sie ließ die Zeitung los und ärgerte sich, dass sie sie überhaupt eingesteckt und dann vergessen hatte.
Gideon überflog den Bericht auf der Titelseite und blätterte wie vorher Libby zu den Seiten vier und fünf. Dort sah er die Fotos, die die Zeitung aus ihrem Archiv hervorgeholt hatte: von seiner Schwester, seinen Eltern, sich selbst als Achtjährigen, von den anderen, die betroffen oder beteiligt gewesen waren.
Heute muss für die Zeitungen ein echter Saurer-Gurken-Tag gewesen sein, dachte Libby erbittert und sagte, um ihn abzulenken: »Hey, Gideon, was ich dir noch sagen wollte: Als ich vorhin bei dir geklopft hab, hat jemand angerufen. Ich hab eine Stimme am Anrufbeantworter gehört. Willst du ihn abhören? Soll ich's dir abspielen?«
»Das hat Zeit«, sagte er.
»Vielleicht war's dein Vater. Vielleicht wegen Jill. Wie findest du das Ganze eigentlich? Du hast nie was darüber gesagt. MUSS doch komisch sein, in einem Alter, wo man längst eigene Kinder haben könnte, noch einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu kriegen. Wissen sie schon, was es wird?«
»Ein Mädchen«, antwortete er, aber sie merkte, dass er mit seinen Gedanken woanders war. »Jill hat sich untersuchen lassen. Es wird ein Mädchen.«
»Cool. Eine kleine Schwester. Du wirst bestimmt ein toller großer Bruder.«
Er stand abrupt auf. »Diese Albträume machen mich fertig. Wenn ich zu Bett gehe, schlafe ich stundenlang nicht ein. Ich liege da und horche und starre die Zimmerdecke an. Und wenn ich dann endlich doch einschlafe, kommen die Träume. Jede Nacht. Ich halte das nicht mehr aus.«
Hinter ihr schaltete sich der Wasserkocher aus. Libby wollte den Tee aufgießen, aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck wilder Verzweiflung ... Sie hatte nie zuvor so einen Gesichtsausdruck gesehen. Er faszinierte sie, er besaß einen so mächtigen Sog, dass sie unfähig war, etwas anderes zu tun, als dieses Gesicht anzustarren. Besser so, dachte sie, als sich bei diesem Anblick zu fragen, ob der Tod seiner Mutter Gideon in den Wahnsinn getrieben hatte.
Das konnte nicht sein. Was für einen Grund hätte es gegeben? Weshalb sollte ein Mann wie er durchdrehen, wenn seine Mutter starb? Die Mutter, von der er jahrelang nichts gesehen und gehört hatte. Okay, gut, einmal hatte er sie gesehen, sie hatte ihn um Geld gebeten, und er hatte abgelehnt, weil er nicht gewusst hatte, wen er vor sich hatte ... Aber war das ein Grund, total auszuflippen? Libby konnte es sich nicht vorstellen. Sie war sich aber im Klaren darüber, dass sie heilfroh war, Gideon in psychiatrischer Behandlung zu wissen.
»Erzählst du der Psychotherapeutin deine Träume?«, fragte sie.
»Die wissen doch angeblich, was sie zu bedeuten haben. Ich meine, wofür bezahlt man diese Psychotypen, wenn nicht dafür, dass sie einem die Träume erklären, damit sie sich nicht wiederholen, stimmt's?«
»Ich gehe nicht mehr hin.«
»Was?« Libby runzelte die Stirn.
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