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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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du dich da erinnern, wie sie aussah?«
    »Sie war da«, sagte er dumpf. »Sie nannte meinen Namen. ›Erinnerst du dich an mich, Gideon?‹ Und sie wollte Geld haben.«
    »Geld?«
    »Ich habe ihr einfach den Rücken zugedreht. Ich bin ja ein so bedeutender Mann und ich muss bedeutende Konzerte geben. Also habe ich ihr den Rücken zugedreht, weil ich nicht wusste, wer die Frau war. Aber ich habe mich schuldig gemacht, ganz gleich, was ich wusste oder nicht.«
    »Mist«, murmelte Libby, als ihr klar wurde, was er sagen wollte.
    »Mensch, Gid, du glaubst doch nicht, dass du schuld bist an dem, was deiner Mutter zugestoßen ist, oder?«
    »Ich glaube es nicht«, erwiderte er. »Ich weiß es.« Sein Blick glitt von ihr weg zur offenen Tür, durch die das Dunkel der Abenddämmerung hereinströmte.
    »Das ist doch Scheiße«, sagte sie. »Wenn du gewusst hättest, wer sie ist, als sie zu dir kam, hättest du ihr geholfen. Ich kenne dich, Gideon. Du bist ein guter Mensch. Du bist anständig. Wenn deine Mutter Probleme gehabt hätte oder so was, wenn sie Geld gebraucht hätte, dann hättest du sie nie im Leben im Stich gelassen. Okay, sie hat dich verlassen und sich jahrelang nicht um dich gekümmert. Aber sie war deine Mutter, und du bist überhaupt nicht der nachtragende Typ, schon gar nicht deiner Mutter gegenüber. Du bist nicht so ein Arschloch wie Rock Peters.«
    Libby lachte ohne Erheiterung bei der Vorstellung, wie ihr Nochehemann reagieren würde, wenn seine Mutter nach zwanzigjähriger Abwesenheit plötzlich in seinem Leben aufkreuzte und ihn um Geld bäte. Er würde sie fertig machen, dachte Libby. Schlimmer noch, er würde sie wahrscheinlich ohrfeigen, wie er das bei Frauen zu tun pflegte, die ihm angeblich berechtigte Gründe zu Tätlichkeiten lieferten. Und das war ja wohl ein berechtigter Grund zur Tätlichkeit - wenn die Mutter, die einen gnadenlos im Stich gelassen hatte, nach zwanzig Jahren vor der Tür stand und um Geld anbettelte, ohne vorher wenigstens zu fragen: Wie ist es dir ergangen, mein Sohn. Gut möglich, dass er total ausrasten würde und ...
    Libby zügelte ihre wild galoppierenden Gedanken. Der Gedanke, dass ausgerechnet Gideon Davies, der nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun konnte, die Hand gegen seine Mutter erheben würde, war absurd. Er war schließlich Künstler, und Künstler gehörten nicht zu den Menschen, die auf offener Straße jemanden umfahren und erwarten würden, dass die Kreativität davon unbeeinträchtigt bleiben würde. Allerdings saß er hier vor seinen Drachen und brachte nichts mehr von dem zu Stande, was er vorher mühelos geschafft hatte.
    Mit trockenem Mund sagte sie: »Hast du von ihr gehört, Gid? Ich meine, nachdem sie dich um Geld gebeten hatte - hast du da noch einmal von ihr gehört?«
    »Ich wusste nicht, wer sie war«, erklärte Gideon erneut. »Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, Libby, deshalb begriff ich überhaupt nicht, wovon sie sprach.«
    Libby verstand das als Verneinung, weil sie es nicht anders interpretieren wollte. »Komm«, sagte sie, »gehen wir doch rein. Ich mach dir einen Tee. Hier ist es ja eiskalt. Du bist wahrscheinlich schon total durchgefroren.«
    Sie nahm ihn beim Arm, und er ließ sich von ihr hochziehen. Sie schaltete das Licht aus, und zusammen tasteten sie sich durch die Dunkelheit zur Tür. Er stützte sich so schwer auf Libby, als hätten alle seine Kräfte sich in dem Bemühen, einen Drachen zu bauen, erschöpft.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er. »Sie hätte mir geholfen, und jetzt ist sie tot.«
    »Ich sag dir, was du tun wirst. Du trinkst jetzt erst mal eine Tasse Tee«, sagte Libby. »Ich spendier dir auch einen Teekuchen dazu.«
    »Ich kann nichts essen«, erwiderte er. »Ich kann nicht schlafen.«
    »Dann schlaf heute Nacht bei mir. Wenn du bei mir bist, kannst du immer schlafen.«
    Was anderes taten sie sowieso nicht. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob er überhaupt schon einmal eine Frau berührt hatte oder die Bereitschaft zur Nähe verloren gegangen war, als seine Mutter ihn verlassen hatte. Libby hatte keine Ahnung von Psychologie, aber es schien eine vernünftige Erklärung für Gideons offenkundige Abneigung gegen Sex. Wie konnte er nach dem, was er erlebt hatte, riskieren, eine Frau zu lieben, die ihn dann vielleicht auch wieder verließ?
    Libby zog ihn die Treppe zu ihrer Küche hinunter, wo sie sehr schnell entdeckte, dass sie ihm die versprochenen Teekuchen nicht bieten konnte. Sie hatte

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