11 - Nie sollst Du vergessen
wehrte sich dagegen, rief immer wieder: »Nein! Nein!« Sie sah aus wie eine Wahnsinnige, mit wildem Haar und wildem Blick, überhaupt nicht der Rolle der liebevollen, fürsorglichen Kinderfrau eines kleinen Mädchens entsprechend, das ... Was war mit dem Kind? Er wagte nicht zu fragen; wagte es nicht, weil er es schon wusste, aber der Gewissheit nicht ins Auge sehen wollte; er hatte Angst vor den Auswirkungen auf sein eigenes kleines Leben, wenn das, was er glaubte und fürchtete, sich als wahr erwiese.
»Trinken Sie«, sagte Robson. »Katja. Um Himmels willen, nehmen Sie sich zusammen. Die Sanitäter werden jeden Moment hier sein. Sie können es sich nicht erlauben, in diesem Zustand gesehen zu werden.«
»Ich habe sie nicht allein gelassen! Nein! Nein!« Mit heftiger Bewegung drehte sie sich auf dem Stuhl, auf dem sie saß, herum und klammerte sich an Robsons Hemd.
»Sie müssen es ihnen sagen, Raphael. Sagen Sie ihnen, dass ich sie nicht allein gelassen habe.«
»Kommen Sie, werden Sie nicht hysterisch. Es ist wahrscheinlich gar nichts.«
Aber da irrte er.
Er - James - hätte zu ihr gehen sollen, aber er hatte es nicht getan, weil er Angst gehabt hatte. Allein der Gedanke, dass diesem Kind etwas zugestoßen sein könnte, dass überhaupt einem Kind in einem Haus, in dem er lebte, etwas zustoßen könnte, lähmte ihn. Und später, als er mit ihr hätte sprechen können und es auch versuchte, um sich ihr als der Freund zu zeigen, den sie brauchte und offensichtlich nicht hatte, lehnte sie jedes Gespräch ab. Es war, als hätten die versteckten Angriffe, mit denen die Presse unmittelbar nach Sonias Tod über sie herfiel, sie derart eingeschüchtert, dass sie glaubte, nur überleben zu können, wenn sie sich ganz klein machte und absolut still verhielt. Jeder Bericht über die Tragödie am Kensington Square begann mit einem Hinweis darauf, dass die Kinderfrau der kleinen Sonia Davies die junge Deutsche war, deren Aufsehen erregende Flucht aus Ostdeutschland - damals allgemein gelobt und bewundert - einen lebensfrohen jungen Mann das Leben gekostet hatte, und dass der Luxus, den sie in England genoss, in traurigem und bedrückendem Gegensatz zu der Situation stand, in die sie durch ihre spektakuläre Flucht in die Freiheit ihre Eltern und Geschwister gebracht hatte. Alles an ihr, was irgendwie zweifelhaft war, alles, was sich gegen sie verwenden ließ, wurde von der Presse ausgeschlachtet. Und demjenigen, der eine nähere Beziehung zu ihr hatte, konnte die gleiche Behandlung blühen. Deshalb hatte er Distanz gehalten - bis es schließlich zu spät gewesen war.
Als sie endlich angeklagt und vor Gericht gestellt wurde, bombardierten erboste Bürger das Fahrzeug, mit dem man sie aus dem Holloway-Gefängnis zum Old Bailey transportierte, regelmäßig mit Eiern und faulen Früchten, und wenn sie abends im selben Wagen nach Holloway zurückkehrte, wurde sie auf dem kurzen Weg zu ihrer Zelle als »Kindsmörderin« beschimpft. Die Öffentlichkeit war in leidenschaftlichen Aufruhr geraten über das Verbrechen, das sie angeblich verübt hatte: weil das Opfer ein Kind war, ein behindertes Kind noch dazu, und weil die angebliche Mörderin eine Deutsche war, wenn das so offen auch niemand sagte.
Und jetzt hocke ich wieder mittendrin im Schlamassel, dachte Pichtley und rieb sich frustriert die Stirn. Als wären die zwanzig Jahre, die seit den Ereignissen jenes Abends vergangen waren, nie gewesen. Dabei hatte er in dieser Zeit seinen Namen geändert und fünfmal seinen Arbeitsplatz gewechselt. Aber wenn er dieser blöden Kuh nicht klar machen konnte, dass von ihrer Aussage sein Überleben abhing, dann waren all seine Bemühungen, sich ein neues Leben aufzubauen, umsonst gewesen.
Sie war allerdings nicht die Einzige, die ihm Sorgen machte. Wenn er in seinem Leben Ordnung schaffen wollte, dann musste er sich dringend mit Robbie und Brent befassen, die wie zwei Zeitbomben waren, bei denen man nicht wusste, wann sie explodieren würden.
Er hatte angenommen, sie wollten wieder Geld haben, als sie das zweite Mal bei ihm antanzten. Dass er ihnen bereits einen Scheck ausgeschrieben hatte, spielte keine Rolle; er kannte die beiden gut genug, um sich vorstellen zu können, dass Robbie das Geld, statt es auf die Bank zu legen, auf ein Pferd mit einem spektakulären Namen gesetzt hatte. Und er sah sich in dieser Vermutung bestätigt, als Robbie, keine fünf Minuten, nachdem die beiden ungepflegt wie immer zur Tür hereingekommen waren,
Weitere Kostenlose Bücher