11 - Nie sollst Du vergessen
mir Verbindung aufgenommen hätte, Inspector. Sie hat es nicht getan, und es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Meine Telefonnummer ist nicht eingetragen. Sie hätte mich also höchstens über meinen Agenten oder meinen Vater erreichen können, oder indem sie mir bei einem Konzert eine Nachricht ins Künstlerzimmer schickte.«
»Und das hat sie nicht getan?«
»Nein, das hat sie nicht getan.«
»Und sie hat Ihnen auch nicht über Ihren Vater eine Nachricht zukommen lassen?«
»Nein«, antwortete Davies. »Vielleicht lügt also mein Onkel, wenn er behauptet, meine Mutter hätte vorgehabt, mit mir Verbindung aufzunehmen und mich um Geld zu bitten. Oder vielleicht hat auch meine Mutter meinen Onkel belogen, als sie sagte, sie würde mich um Geld bitten. Oder vielleicht hat mein Vater ihre Anrufe bei ihm erfunden. Aber das ist höchst unwahrscheinlich«, erklärte er mit großer Bestimmtheit.
»Warum halten Sie das für so unwahrscheinlich?«
»Weil mein Vater selbst ein Zusammentreffen zwischen meiner Mutter und mir wünschte. Er dachte, sie könnte mir helfen.«
»Wobei?«
»Meine Schwierigkeiten zu überwinden. Er dachte, sie könnte -« An dieser Stelle richtete Davies den Blick wieder ins Feuer. Er hatte alle Sicherheit, die er einen Moment zuvor noch gezeigt hatte, verloren. Seine Beine zitterten. Den Blick unverwandt in die Flammen gerichtet, sagte er: »Aber ich glaube nicht, dass sie mir hätte helfen können. Ich glaube nicht, dass mir überhaupt geholfen werden kann. Trotzdem war ich bereit, es zu versuchen. Vor ihrem Tod. Ich war bereit, alles zu versuchen.«
Ein Künstler, dachte Lynley, den eine tiefe Angst an der Ausübung seiner Kunst hinderte. Er hatte vermutlich nach einer Art Talisman gesucht. Er hatte glauben wollen, dass seine Mutter die Zauberkraft besaß, die ihm helfen würde, wieder zu seinem Instrument zu finden. Um sich zu vergewissern, sagte Lynley: »Wie, Mr. Davies?«
»Bitte?«
»Wie hätte Ihre Mutter Ihnen helfen können?«
»Indem sie meinen Vater bestätigt hätte.«
»Bestätigt? Worin?«
Davies dachte über die Frage nach, und als er antwortete, verriet er Lynley, welch ein Unterschied zwischen seinem tatsächlichen beruflichen Leben bestand und dem, was der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
»Indem sie bestätigt hätte, dass mir nichts fehlt; nur dass mir meine Nerven Streiche spielten. Das wollte mein Vater von ihr. Er brauchte unbedingt ihre Bestätigung, verstehen Sie. Alles andere ist undenkbar. Unaussprechlich wäre normal in meiner Familie. Aber undenkbar ...? Das wäre viel zu anstrengend.« Er lachte schwach, keine Erheiterung im Ton, nur Bitterkeit. »Aber ich hätte einem Zusammentreffen zugestimmt. Und ich hätte versucht, ihr zu glauben.«
Er hätte also allen Grund gehabt, seine Mutter lebend zu wünschen, nicht tot. Vor allem wenn er daran geglaubt hatte, dass sie ihm bei seinen Problemen helfen könnte.
Dennoch sagte Lynley: »Die nächste Frage ist reine Routine, Mr. Davies, ich muss sie stellen: Wo waren Sie vorgestern Abend, als Ihre Mutter getötet wurde? Sagen wir, zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht.«
»Hier«, antwortete Davies. »Im Bett. Allein.«
»Hatten Sie Kontakt mit einem gewissen James Pitchford, seit dieser vor gut zwanzig Jahren das Haus Ihrer Eltern verließ?«
Davies' Verwunderung war nicht gespielt. »Mit James, dem Untermieter? Nein. Warum?« Die Frage schien durchaus aufrichtig.
»Ihre Mutter war auf dem Weg zu seiner Wohnung, als sie getötet wurde.«
»Auf dem Weg zu James? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Nein«, stimmte Lynley zu. »Einen Sinn ergibt es bis jetzt nicht.«
Und es war nicht die einzige ihrer Handlungen, die keinen Sinn ergab. Lynley fragte sich, welche von ihnen zu ihrem Tod geführt hatte.
14
Jill Foster sah Richard an, dass es ihm nicht passte, schon wieder von der Polizei Besuch zu bekommen. Noch weniger passte es ihm, dass der Kriminalbeamte eigenem Bekunden zufolge direkt von Gideon kam. Er hörte sich diese Mitteilung zwar höflich an, aber Jill bemerkte, wie er, als er den Beamten ins Wohnzimmer führte, den Mund zusammenkniff - bei ihm stets ein Zeichen der Verärgerung.
Dieser Inspector Lynley fasste Richard so scharf ins Auge, als wollte er sich nicht die kleinste Reaktion entgehen lassen. Das machte Jill unruhig. Sie kannte sich aus mit der Polizei, nicht umsonst hatte sie jahrelang Zeitungsberichte über manipulierte Ermittlungen und berühmte Justizirrtümer
Weitere Kostenlose Bücher