1115 - Die Tränen des Toten
Leichenhalle öffnete sich ihm.
Das Licht fiel in mehreren Schüben aus der Decke nach unten. Es war ein sanftes Leuchten. In Blau, Grün und auch Gelb. Nicht freundlich oder warm. Der kalte Schein aus der Unendlichkeit des Alls hatte hier Einzug gehalten. Er berührte auch den dunklen, mit Steinplatten bedeckten Boden und machte ihn zu einem Spiegel, der die Lichter der Decke schwach wiedergab.
Es war totenstill in der Umgebung. Auch Suko dämpfte seine Schritte und konzentrierte sich. Nur hinter seinem Rücken hörte er ein Geräusch. Da fiel die Kupfertür langsam wieder zu, und jetzt kam er sich lebendig begraben vor. Die beiden Leibwächter hatte er nicht weggehen gehört. Sicherheitshalber drehte er sich um.
Seine scharfen Augen mußten passen. Er sah sie nicht mehr. Sie konnten sich allerdings auch im Schatten des Eingangs aufhalten, weil sich das Licht dort verlor.
Suko nahm sich Zeit. Er wollte alles sehen, denn ihn interessierte auch die Umgebung der Aufbewahrungsstätte. Ganz im Gegensatz zum glatten Boden standen die Wände. Auch sie waren aus Stein gebaut worden, jedoch nicht glatt wie der Boden. Man hatte Felsbrocken zurechtgeschnitten und sie aufeinandergetürmt. So bildeten sie ein Muster aus Steinen, damit sich der Besucher vorkommen konnte wie in einer Felsenhöhle. Die Steine waren sandfarben. Sie lagen kreuz und quer übereinander. Sie bildeten flache Mulden, aber auch Vorsprünge. Der Eindruck einer breiten Höhle traf immer stärker zu, je mehr sich Suko seinem Ziel näherte.
Es war der Tote.
Er lag in keinem Sarg. Er war einfach nur auf einer Felsplatte aufgebahrt worden. Um ihn herum standen die Schalen und gaben den Geruch ab. Sie schienen vom Material her zu leuchten, aber es war nur das Licht, das ihnen den Farbton gab und durch das sich die dünnen Schleier bewegten.
Der Tote lag auf dem Rücken der rechteckigen Steinplatte wie das Opfer auf einem Altar. Er trug ein gelbes Gewand, wie man es von den Mönchen in Tibet her kennt. Sein Kopf war kahlgeschoren.
Nichts erinnerte an einen Menschen mit großem Einfluß. Hier im Tod waren alle Menschen gleich.
Ob Bettler, Mönch oder Manager. Der Sensenmann machte keine Unterschiede und sorgte letztendlich für Gerechtigkeit.
Suko blieb am Fußende stehen. Da er sich nicht mehr bewegte, war es absolut still geworden. Er konnte die Stille fühlen, sie umklammerte ihn, und auch Suko war ein Mensch, der die Stille liebte.
Es hätte ihm gefallen, lange hier zu stehen und zu meditieren. Er hätte sich selbst durch seine Gedanken wegtragen lassen können, um andere Sphären zu erkunden.
Aber er hatte einen Job.
Er stand vor der Leiche und erinnerte sich daran, was ihm Sir James mit auf den Weg gegeben hatte.
»Schauen Sie sich den toten Agashi an. Bilden Sie sich Ihre Meinung und geben Sie mir dann Bescheid.«
Suko hatte natürlich nachgefragt, doch nur ein Schulterzucken als Antwort erhalten. »Niemand weiß etwas. Ich ebenfalls nicht. Man hält sich zurück.«
»Sonst nichts?«
»Nein, aber man hat mich von höchster Stelle angewiesen, den Leuten den Gefallen zu tun. Ob dieser Agashi eines natürlichen oder eines unnatürlichen Todes gestorben ist, wissen wir auch nicht. Es gibt eben Dinge, die bleiben uns Europäern verborgen.«
»Wem sagen Sie das, Sir?«
»Dann viel Glück.«
Von Glück wollte Suko nichts wissen, als er vor dem Toten stand und seinen Blick vom Fußende bis hoch zum Kopf gleiten ließ. Er suchte nach einer Verletzung, einer Wunde. Einem Einschußloch oder irgendeinem Hinweis, der auf einen unnatürlichen Tod schließen ließ.
Nichts.
Der Mann schien einen Herzschlag erlitten zu haben. Danach war er sanft in die Gefilde des Todes hineingeglitten. Suko kam sich direkt überflüssig vor.
Er konzentrierte sich auf das Gesicht. Es war alterslos, zugleich auch wächsern. So starr. Ohne Falten. Die kleine Nase, der ebenfalls nicht große Mund. Das runde Kinn, der glatte Hals, der Oberkörper, der von einer Kutte nur unzureichend bedeckt war, denn sie war so geschlungen, daß die rechte Schulter des Mönchs frei blieb. Auch dort zeigte die Haut kein anderes Aussehen als im Gesicht.
Nur die Augen irritierten Suko.
Nicht, weil sie offenstanden, denn einem Toten wurden sie normalerweise zugedrückt, nein, er wunderte sich über den Ausdruck. Die Augen waren dunkel, sogar sehr dunkel, und er konnte die Farbe nicht eben als normal ansehen. Kleine Teiche, die in sich selbst ruhten, als wäre die Hand eines Geistes darüber
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