1124 - Aus dem Reich der Toten
sehen.
Ich hatte dann schreckliche Todesschreie der Menschen gehört und auch das Blut gesehen, das in den Nebel hineingequollen war. Deshalb war ich auch darauf gefaßt gewesen, hier in der Hütte zahlreiche Leichen zu finden, doch dieser Teil des Traums hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet, noch nicht.
Nora Thorn stand schon an der Tür. Sie konnte normal sprechen, denn das Singen der Säge war verstummt.
»Kommst du?«
»Sicher.«
Ich blieb neben ihr stehen. »Jetzt gilt es!« erklärte sie ohne eine Spur von Angst in der Stimme.
Ich blies die Luft aus. »Okay, denn«, sagte ich und startete…
***
Wir hatten uns nicht abgesprochen. Ein jeder vertraute darauf, daß der andere das Richtige tat. Ich lief mit langen Schritten aus dem Haus, zudem noch im Zickzack, denn ich wollte vom Dach her nicht beschossen werden.
Nach gut fünf Metern blieb ich stehen, machte auf dem Absatz kehrt und drehte mich um.
Das Dach war leer. Ich sah den Kettensäge-Mann nicht. Es konnte auch sein, daß er sich flach hingelegt hatte, so daß ich ihn aus meiner Perspektive nicht sah.
»Was ist denn, John?«
»Du kannst kommen!« rief ich Nora zu.
Sie machte es wie ich und war ebenfalls schnell. Ich deckte diese Aktion so gut wie möglich, aber die Waffe brauchte ich nicht einzusetzen.
Nora verließ das Haus ebenso locker und sicher wie ich. »Den ersten Teil haben wir geschafft.«
»Immer noch so cool?«
»Soll ich mich deswegen aufregen?«
»Nein, aber ich wundere mich.«
»Du hast Frauen bisher nur als kleine Hascherl kennengelernt, wie?«
»Das nicht gerade. Aber lassen wir das. Es ist wichtig, daß wir den See verlassen.«
»Warum eigentlich?« Sie deutete auf das Wasser. »Wenn wir hier bleiben, dann haben wir ihn unter Kontrolle, und er uns ebenfalls. Wir sind zu zweit, er ist allein. Wäre doch nicht schlecht, wenn wir ihn stellen würden.«
Mir diesen Worten hatte ich nicht gerechnet und schaute Nora auch dementsprechend überrascht an.
»Nein«, erwiderte ich, »das wird auch nichts bringen. Ich will ihn dorthin locken, wo wir die besseren Karten haben, und die Fluchtwege nicht so günstig sind.«
»Ganz wie du willst«, sagte Nora. »Aber glaubst du wirklich, daß er fliehen will?«
»Keine Ahnung. Ich weiß überhaupt nicht, was er genau vorhat, abgesehen davon, daß er uns wahrscheinlich zersägen will.« Wir standen auf dem Steg und schauten an der Hütte vorbei auf das Wasser. Das Loch im Dach war nicht zu sehen, aber auch der Killer hielt sich verborgen. In diesem Fall ärgerte ich mich darüber. Ich wollte ihn stellen und nicht, daß er mit uns weiterhin Katz und Maus spielte.
Nora Thorn hatte sich bereits von mir entfernt. Ich hörte sie nicht gehen, sondern merkte es nur an den Vibrationen der Bohlen unter meinen Füßen.
Und dann war wieder das häßliche Geräusch der verdammten Kettensäge zu hören.
Diesmal wußte ich sofort, woher es kam. Unter mir und zugleich zwischen Nora und mir.
Auch sie hatte es vernommen. Ich sah, wie sie sich umdrehte, und zugleich brachen die Bohlen dicht vor meinen Füßen auf.
Sie waren nicht eben leicht und brüchig. Eine ungemein starke Kraft mußte von unten her gegen das Holz gedrückt haben. Das Splittern und Krachen wurde begleitet von den dröhnenden, schrillen und auch dumpfen Lauten der verdammten Kettensäge.
Aber nicht nur sie drückte sich aus dem Schlamm und dem Wasser unter dem Steg, auch der Killer mit dem Gesicht meines Vaters tauchte wie ein Schreckgespenst vor mir auf.
Eines stand fest.
Er wollte es jetzt und hier auf dem verdammten Steg ein- für allemal beenden…
***
Ich hatte insofern Glück gehabt, daß die Bohlen unter meinen Füßen nicht nachgegeben hatten, so war der normale Halt geblieben. Aber der Killer war damit auch nicht verschwunden, und seine verdammte Kettensäge ebenfalls nicht.
Er stand noch im Loch. Seine Füße steckten wahrscheinlich im Schlamm am Grund, aber er war nicht wehrlos. Er war naß, verschmutzt, er war auch schnell vom Dach herunter gewesen und in den See eingetaucht, und in seinen Augen stand dieses verfluchte Leuchten, das ich so haßte. Es kündete seinen Triumph an, den die mörderische Kettensäge schließlich vollenden sollte.
Er ließ mir nicht viel Zeit zum Nachdenken. Da gab es keine Gegenstrategie für mich. Dieser Unmensch wuchtete sich auf mich zu. Ich sah ihn, ich sah die verdammte Kettensäge und hörte wieder dieses grauenvolle Geräusch. Nur konnte ich mich freier bewegen als mein
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