1124 - Aus dem Reich der Toten
Es war der zweite Schock, der mich innerhalb kurzer Zeit erwischt hatte. Der letzte lag ein paar Minuten zurück. Da hatte ich Nora im Bad gefunden, und sie hatte ausgesehen wie eine Leiche.
Ob tot oder bewußtlos, das hatte ich nicht feststellen können, aber ich hatte die Käfer gesehen, die an den Wänden und auch über die »Leiche« hinweggekrabbelt waren. Ich hatte auch das Blut entdeckt, das aus Noras Mund rann, kannte allerdings nicht den Grund.
Ich hatte sie aus dem schmalen Bad gezogen und in den Wohnraum geschafft. Dort war die »Leiche« dann wieder lebendig geworden und hatte mich mit einem knappen »Hi« begrüßt.
Da war mir der berühmte Felsbrocken vom Herzen gefallen. Er war kaum gelandet, da hatte ich wieder dieses verdammte Geräusch gehört. Der Killer mit der Kettensäge lauerte in der Nähe des Blockhauses, und diese widerlichen, schrillen und auch singenden Geräusche malträtierten meine Ohren.
Nach dem Aufklingen hatte ich Nora für einen Moment vergessen. Ich blieb neben der Couch lauschend stehen, und die Gänsehaut auf meinem Rücken schien festgefroren zu sein.
In meinen Alpträumen hatte ich die Gestalt mit dem Gesicht meines Vaters zuerst gesehen. Aber mein Vater war tot; trotzdem konnte ich diesen Traum nicht einfach vergessen. Es steckte eine Botschaft dahinter, davon ging ich aus. Jemand wollte mir etwas mitteilen, nur war mir nicht bekannt, wie die Botschaft lautete. Man trieb ein perfides Spiel. Jemand hatte die Logik auf den Kopf gestellt. Mein Vater war und blieb tot. Trotz der rätselhaften Dinge, die nach seinem Ableben passiert waren und jetzt wieder geschahen.
Die Gestalt aus dem Traum war auch für mich lebendig geworden. Ich hatte sie auf dem Parkplatz gesehen. Mitten in der Nacht, nahe des Hotels, in dem ich auch Nora Thorn getroffen hatte, um dort zu übernachten. Ich hatte dieses Treffen als reinen Zufall betrachtet, jetzt nicht mehr, denn sie hier im Blockhaus zu finden, das war kein Zufall gewesen. Dahinter steckte Methode.
Wie eben bei allen Vorgängen in der letzten Zeit. So fühlte ich mich wie jemand, der an der langen Leine gehalten und dabei in bestimmte Richtungen gezogen wurde.
Auch Nora hatte das Geräusch gehört. Sie saß jetzt auf der Couch und fuhr durch ihre Haare. Dann schnippte sie noch ein Insekt vom Stoff des Bademantels weg. Sie schaute zu, wie der Käfer über den Boden krabbelte und dann unter einer Bohle verschwand.
Wir schauten uns an. Die Melodie der Säge war nicht zu hören. Nora lächelte. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Was soll dir denn leid tun?«
»Daß du diesen Ärger hast.«
»Du noch mehr als ich.«
Sie zuckte nur mit den Schultern.
Trotz der angespannten Atmosphäre konnte ich lachen, aber es klang bitter. »Ich weiß nicht, wer du bist und was du mit der Gestalt da draußen zu tun hast, aber ich werde es herausfinden. Das schwöre ich dir.«
»Nichts«, sagte sie.
»Wie kam es dann, daß ich dich im Bad fand?«
»Ganz einfach. Ich bin ausgerutscht und mit dem Mund irgendwo aufgeschlagen.« Sie klappte die beiden Hälften des Bademantels über die nackten Beine. »Nicht mehr und nicht weniger. Ich weiß, daß es profan klingt, aber das ist die Wahrheit nun mal.«
»Ja, oft, aber nicht immer. So habe ich mir eine Vertreterin für eine Modefirma oder wie auch immer nicht gerade vorgestellt.«
»Du bist auch nicht der, als der du dich ausgegeben hast, John.«
»Stimmt.«
»Eben.« Sie stand auf. Der Bademantel paßte ihr nicht. Er war viel zu weit, reichte aber von der Länge her nur bis zu den Knien. Ihre normale Kleidung lag noch im Bad. Dorthin ging sie jetzt.
Nora umgab ein Geheimnis. Davon mußte ich einfach ausgehen. Ich fragte mich auch, wie sie an diese einsame Stelle gekommen war. Ein Auto hatte ich nicht gesehen, und ich bezweifelte, daß sie den Weg zu Fuß hinter sich gebracht hatte. Am meisten fiel mir auf, daß sie keine Angst zeigte. Sie bewegte sich völlig normal, als wären wir in der Hütte, um Ferien zu machen. Wenn Nora Thorn mit ihrem Wagen hergekommen war, dann hatte sie ihn gut versteckt, denn mir war er nicht aufgefallen. Dann mußte sie auch besser informiert gewesen sein und hatte in diesem Spiel im Hintergrund mitgemischt.
Der Killer mit dem Gesicht meines Vaters war da. Er steckte irgendwo in der Nähe der Hütte. Bisher war ich nicht dazu gekommen, durch ein Fenster nach draußen zu schauen. Das änderte sich jetzt.
Dieser Raum hier nahm die Breite der Blockhütte ein. Ich konnte
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