1161 - Der Keim des Bösen
gehen und Unschuldige zu erschießen. Menschen, die diesem Killer nichts getan hatten, die er nicht einmal kannte.
Das wollte Jane nicht in den Sinn. Sie merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Sie musste einfach die Augen schließen, auch wenn es nur einen Moment war.
»Geschockt, Jane?«
»Ja, ich bin geschockt. Und zwar darüber, dass ein Mensch so etwas fertig bringt. Ihr Vasall kam, er schoss. Er hat eine junge Frau getötet, und er hat eine andere verletzt. Das kann ich nicht begreifen. Es war auch kein Amoklauf eines psychisch gestörten Menschen, wie man es immer wieder erlebt oder liest. Das war etwas völlig anderes, Lukretia. Ich sehe überhaupt kein Motiv.«
»Da irrst du dich, liebe Jane.« Sie duzte die Detektivin jetzt. Auch ihre Haltung hatte sich verändert.
Sie war gespannter geworden. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt lauernd.
»Sagen Sie es mir!«
»Es ist der Keim!«, flüsterte Lukretia.
»Welcher Keim?«
»Der Keim des Bösen. Ein Hauch. Ein Atemstoß aus der Urzeit, begreifst du nun?«
»Nein, das begreife ich nicht.«
»Habe ich mir gedacht, Jane. Ich bin auch gekommen, um es dir zu erklären. Ich will nicht von den beiden großen Gegensätzen anfangen, aber das Böse ist nicht besiegt. Wer das denkt, der macht einen Fehler. Es gibt es noch immer. Es hat sich Nischen gesucht und diese Nischen auch gut ausgefüllt.«
»Das weiß ich.«
»Manchmal kommt es dann hervor. Es verlässt die Nische, um den Keim in die Welt zu tragen, damit er sich ausbreiten kann. Er überfällt Menschen. Er packt sie, er dringt in sie ein, und der Mensch wird dann zu einer anderen Person.«
»Wie Phil Harper?«
»Richtig geraten, Jane!«, lobte die Silberblonde. »Harper ist einer von Ihnen.«
»Ja«, flüsterte Jane, die wieder nicht überrascht war. Sie fragte nur: »Wer hat den Keim über…«
Das Lachen der anderen Person unterbrach sie. »Wer? Das fragst du noch? Ich bin es gewesen! Ich habe ihn mit dem Keim des Bösen infiziert! Ich bin der Anfang! Ich werde dafür sorgen, dass er in die Welt getragen wird. Und unter welchen Folgen das geschieht, hast du miterleben dürfen. So sehen Siegerinnen aus, Jane Collins. Ich zähle mich immer dazu. Ich bin die Siegerin, und ich werde diese Straße auch nicht verlassen, da kannst du sicher sein. Aber ich bin auch empfindlich, wenn ich merke, dass es Schwierigkeiten gibt. Und dass sich so etwas anbahnen kann, habe ich bei meinem Eintritt in das kleine Restaurant gemerkt. Was ich da spürte, konnte mir nicht gefallen, und deshalb habe ich meine Pläne geändert, was mir im Prinzip Leid tut.«
»Und wie sehen diese Änderungen im Prinzip aus«, erkundigte sich Jane, obwohl sie ahnte, worauf die Wahrheit hinauslief.
»Ich werde mich jetzt um dich kümmern.«
»Sie wollen mich infizieren.«
»Ja.«
»Damit ich das gleiche Schicksal erleide wie Harper?«
»Du bist klug, Jane.«
»Kann sein. Man soll sich ja nicht selbst loben. Sie haben nur vergessen, dass ich nicht Harper bin, sondern Jane Collins heiße und Sie schon einmal nervös gemacht habe.«
»Hör auf. Ich glaube nicht mehr, dass du es gewesen bist. Sonst hätte ich jetzt das Gleiche gespürt. Du bist anders, aber ich weiß, dass ich an dich besser herankomme. Ich ziehe dich auf meine Seite, und dann werden wir weitersehen. Verstanden?«
»Sie können es versuchen.«
»Das werde ich, Jane, aber es ist mir noch etwas anderes aufgefallen, muss ich dir sagen. Wenn du von normalen Menschen sprichst, da muss ich dir zugestehen, dass ich dich auch nicht für einen normalen Menschen halte. Zwar siehst du so aus, aber ich spüre sehr deutlich, dass du etwas in deinem Innern versteckst, das mich ein wenig nervös macht. Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich werde es herausfinden. Wichtig allerdings ist zunächst, dass ich dich auf meine Seite hole.«
»Es wird Ihnen nicht gelingen!«
»Meinst du wirklich?« Sie sagte nichts mehr und zeigte in den folgenden Sekunden, was sie vorhatte. Mit einer bedächtig langsamen Bewegung öffnete sie ihren Mund.
Jane, die eigentlich vorgehabt hatte, so schnell wie möglich an ihre Tasche heranzukommen, konnte nur zuschauen, weil sie durch die Bewegung fasziniert worden war.
Harper fiel ihr ein. Und auch die Szene, wie er sein Leben ausgehaucht hatte. In seinen Mund war hineingeleuchtet worden, weil man etwas in ihm hatte sehen wollen.
Hier lief das Spiel ebenfalls auf diese Art und Weise ab. Es war hell genug, um Jane einen Blick in Lukretias Mundhöhle zu
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