1164 - Die Wolfsfrau
schwächer wurde. Aus der Siegerin war eine Verliererin geworden. Der Kampf würde für Judy einen vollen Erfolg bringen, auch wenn zwei Finger jetzt in ihre Augen stachen und die Masse in das Innere hineindrückten. Es gab keine Rettung für sie.
Luft bekam sie schon längst nicht mehr. Die Wand vor ihr hatte ihr Aussehen verloren. Sie bestand aus einer in sich kreisenden Dunkelheit, die sich vor den Augen der Wölfin aufgebaut hatte.
Sie bekam nicht mit, dass sich die Hände der Blutsaugerin von ihrem Hals lösten. Die Schatten tanzten vor dem Gesicht. Der Hals schmerzte, als wäre die Haut innen und außen mit Säure behandelt worden. Es war für sie alles anders geworden, und das Karussell des nahen Todes drehte sich immer schneller.
Mit einer wütenden Bewegung stieß Judy die Schwester von sich und rollte sie zur Seite, damit sie in einer bestimmten Haltung liegenblieb.
Sie war zufrieden.
Alice lag auf dem Rücken. Sie kämpfte mit sich. Jetzt hatte sie gemerkt, dass ihr Hals nicht mehr zugedrückt wurde. Sie konnte wieder atmen, und mit jedem Luftholen entstand ein saugendes Geräusch. Die Wölfin war so stark mit sich selbst beschäftigt, dass sie auf ihre Schwester nicht achtete.
Sie sah Judy nicht einmal. Das Sichtfeld war noch immer stark eingeschränkt.
Aber sie spürte den Körper.
Plötzlich lag er wieder auf ihr. Schräg, und zwei Hände fassten nach ihrem Kopf. Sie drehten ihn so zur Seite, wie Judy es sich vorstellte. Alles musste perfekt für den Biss gemacht werden.
Diesmal würde sie niemand retten.
Wieder öffnete sie den Mund. Sie hielt den Oberkörper noch in der Schwebe. Dann ließ sie sich fallen und landete mit ihrem Mund auf der linken Halsseite mit der straff gespannten Haut.
Sie biss zu!
Tief hackten ihre Zähne in die Haut der Schwester. Es war alles andere als ein zarter Biss. Sie hatte alles hineingelegt, sie wollte und musste an das Blut heran, das jetzt, wie aus einer Quelle dringend, in ihren weit geöffneten Mund hineinspritzte.
Das große Wunder hatte sich letztendlich noch für sie erfüllt. Endlich kam sie an das frische Menschenblut heran, und sie genoss es wie ein normaler Mensch ein köstliches Menü.
Alice zuckte nicht mal. Sie schien überhaupt nicht zu merken, was mit ihr geschah. Das normale Leben rann aus ihr hervor. Sie tauchte ein in die Tiefe einer anderen Existenz, aus der sie als Vampirin wieder erwachen würde. Der Fluch als Werwölfin erwischte sie nur in der Nacht und bei Vollmond.
Aber dieser neue Fluch würde sie für immer im Griff haben. Das war auch Judy klar, die einfach nicht ablassen wollte und den roten Lebenssaft gierig schluckte, wobei sie schlürfende und schmatzende Geräusche von sich gab.
Die Untote war voll im Rausch. Auf ihre Umgebung konnte sie dabei nicht achten und sah deshalb auch nicht, dass plötzlich die Tür des Verlieses aufgestoßen wurde…
***
Lena hatte sie aufgerammt!
Sie war plötzlich so schnell gelaufen, dass ich es nicht mehr geschafft hatte, sie einzuholen. Aber das Öffnen der Tür hatte Zeit gekostet, so bekam ich sie dicht hinter der Schwelle zu packen, auch wenn sie sich wehrte, trat, schlug und spuckte.
Ich schleuderte sie zur Seite. Als Lena gegen die Wand prallte, schrie sie auf. Mein Blickfeld war frei, und was ich sah, wollte ich zunächst nicht glauben.
Auf dem Bett lag eine nackte Frau mit blonden Haaren. Das musste Alice Carver sein, denn Bill hatte sie mir beschrieben. Und die rothaarige Person auf ihr war demnach ihre Schwester Judy, die sich in einen Vampir verwandelt hatte.
Der Kopf lag in Halshöhe ihrer Schwester. Sie hatte sich dort regelrecht verbissen. An den kurzen zuckenden Bewegungen erkannte ich, dass sie dabei war, das Blut ihrer Schwester zu trinken, um sie zu einer Wiedergängerin zu machen. Was mir im ersten Moment nicht in den Kopf wollte, weil ich mich fragte, ob aus einer Werwölfin eine Vampirin werden konnte.
Langes Überlegen brachte mich nicht weiter. Ich musste so schnell wie möglich handeln und hatte Judy Carver mit einem langen Satz erreicht. Mit der linken Hand fasste ich in ihre Haare. An ihnen riss ich den Kopf hoch und hörte einen wilden Schrei, als ihr Vampirmaul zwangsweise vom Hals des Opfers gelöst wurde.
Ich wuchtete sie zur Seite.
Neben dem Bett fiel Judy Carver zu Boden. Sie sah schlimm aus. Etwas war mit ihren Augen geschehen. Jemand hatte sie in die Höhlen gedrückt, und auch das Gesicht zeigte streifige Wunden, die von Fingernägeln stammen
Weitere Kostenlose Bücher