1167 - Die Tochter des Dämons
Sehen, Tochter…«
Jetzt war es heraus. Jetzt hatte sie es gehört, aber Alina war nicht in der Lage, etwas zu erwidern.
Sie konnte sich auch nicht bewegen. Sie war wie zu Stein geworden.
Als läge eine Hand in ihrem Nacken, so wurde sie durch einen gewissen Druck gezwungen, den Kopf zu senken. Sie schaute in die Tiefe, und sie schwebte jetzt mit dem Gesicht sehr dicht über dem Grab, das seine Form verloren hatte.
Es war kein Grab. Es war das spiegelnde Licht, auf das sie blickte, es aber nicht durchdringen konnte.
Aus dem Licht drang etwas hervor. Aus der Tiefe des Grabs stieg es nach oben. Es war etwas, das Alina sah und trotzdem nicht erkannte. Es war allein für sie bestimmt, und es war dabei, auf sie zuzukommen. Etwas Helles, etwas Klares.
Die Berührung spürte sie in ihrem Gesicht. Es war ein sehr zarter Hauch, ähnlich wie das Streicheln eines Blütenblatts. Er bewegte sich über die obere Gesichtshälfte hinweg und dort streifte er eigentlich nur ihre Augen.
Eine Feder. Etwas so wunderbar Sanftes. Es glitt in ihre Augen hinein, aber es verursachte keinen Schmerz. Es war alles irgendwie gerichtet und wunderbar.
Alina verspürte keine Furcht mehr. Auch die Unsicherheit war verschwunden. Die Botschaft des toten Vaters hatte ihr neuen Mut zum Leben gegeben.
Ob Wunder oder nicht, Alina dachte nicht daran, sich zu wehren. Und sie forschte auch nicht nach einer Erklärung. Stattdessen wollte sie das Neue genießen, das sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte.
»Vater…?«
Das Flüstern verlor sich. Sie hörte nichts mehr. Die Stimme hatte sich zurückgezogen. Sie musste in der Unendlichkeit verschwunden sein. Im Reich der Toten, der Geister. Sie war allein. Es hatte keinen Abschied mehr gegeben, und so schaute Alina auf das Grab, das wieder sein normales Aussehen erhalten hatte.
Kein Licht mehr, das spiegelte. Keine Stimme, die etwas zu ihr sagte. Um sie herum befand sich die ganz normale Umgebung eines Londoner Friedhofs.
Alina kam sich vor wie aus einem tiefen Traum erwacht. Zugleich wusste sie, dass es kein Traum gewesen war. Sie lag nicht in ihrem Bett, und sie brauchte nur um sich zu tasten, um zu wissen, wo sie sich befand. Ihre Hände glitten über die blanken Kieselsteine am Rand des Grabs hinweg. Sie spürte die Kühle, sie hörte auch das leise Klacken, konnte die Steine gegeneinander reiben, das alles passte genau in die kleine Welt hinein, die sie umgab.
Alina hob den Kopf und kniete sich wieder aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken hin. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich keine Gefühle mehr ab. Es hatte den traurigen Ausdruck verloren, es war einfach nur neutral. Der Wind fuhr durch ihre rotblonden langen Haare und trieb sie nach vorn, wo die Spitzen dann ihr Gesicht streichelten.
Langsam stand sie auf. Mit jedem Zentimeter, den sie höher kam, empfand sie die Normalität der Welt stärker. Alina Wade wusste wieder, wo sie sich befand.
Niemand war gekommen und hatte sie in das Geisterreich der Toten gezogen, obwohl sie von Toten umgeben war. Die jedoch lagen tief in der kalten Erde und moderten vor sich hin, bis nur noch Knochen und Staub zurückblieben.
Automatisch reinigte sie den Stoff der Hose an den Knien von Schmutzflecken.
In ihrem Gesicht regte sich nichts. Es hätte gut und gern einer dieser Figuren gehören können, die auf den Gräbern als Wächter aus Stein standen.
Etwas kribbelte in ihr. Es zog hoch. Es machte sie nervös, und sie bewegte unruhig den Kopf hin und her.
Nein, es hatte sich nicht viel verändert. Die Dämmerung mochte etwas zugenommen haben. Die hellen Flecken am Himmel waren kleiner geworden, aber das war auch alles.
Alina öffnete den Mund. Sie musste einfach tief durchatmen. Noch war ihr Kopf leer, doch sie wusste auch, dass sich dies sehr bald ändern würde.
Ich habe etwas erlebt!, dachte sie. Ich habe etwas erlebt, das mit dem normalen Verstand nicht zu begreifen ist. Ich kann nicht genau sagen, wie es dazu kam, aber ich habe es mir auch nicht eingebildet. Etwas ist über mich gekommen. Ich habe eine Botschaft meines verstorbenen Vaters aus dem Grab empfangen. Er hat mir sein Erbe anvertraut, das ich in mir trage.
So viel wusste sie, mehr auch nicht. Da gab es eine Blockade im Kopf, und sie schaute wieder auf das Grab, das völlig normal vor ihr lag. Auf ihm bewegte sich nichts. Sie hatte auch keine Chance, in die Tiefe zu schauen, weil es nicht durchsichtig war. Die gelben Rosen leuchteten ihr entgegen.
Wind bewegte das Laub der Bäume und
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