1167 - Die Tochter des Dämons
selbst.
Sie hatte den Mann nicht gesehen, aber sie wusste, dass er noch jung war. Seine Stimme wies darauf hin. Und er hatte sich lautlos bewegen können, denn Sarah hatte ihn wirklich nicht gehört. Erst als er hinter ihrem Rücken stand und sie die Messerspitze am Hals spürte, wurde ihr klar, in welch einer Falle sie steckte.
Wenn jemand auf dem Trip ist und unbedingt Stoff braucht, dann ist er auch unberechenbar. Davor fürchtete sich Sarah Goldwyn. Dem brauchte nur etwas in den Kopf zu kommen, und schon stieß er zu. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Ihre Handtasche hielt sie in der rechten Hand. Die Farbe passte zum Hut, und Sarah wusste, dass sie die Tasche nebst Inhalt nicht mehr würde retten können.
Um das Geld tat es ihr nicht leid. Es war keine große Summe. Knapp 80 Pfund hatte sie eingesteckt.
Die Summe, die sie bei ihren Spaziergängen mitnahm, reichte immer für eine Taxifahrt, wenn ihre Mitbewohnerin Jane Collins nicht zu Hause war, was an diesem Tag tatsächlich zutraf.
»Was soll ich tun, Junge?«
»Lass nur die Tasche fallen.«
»Willst du sie auch haben?«
»Nein, die juckt mich nicht.«
»Gut, du hast die besseren Argumente.« Der Junkie kicherte. »Die habe ich immer, Oma. Ich bin immer der große Sieger.«
»Freu dich. Es wird bestimmt nicht so bleiben!«
»Lass die Tasche fallen!«, verlangte er hechelnd.
»Alles klar.« Lady Sarah löste ihre Finger von den beiden Trageriemen und die Tasche landete auf dem Boden. Da sie unten breiter war als oben, fiel sie nicht um.
Aus dem rechten Augenwinkel erkannte Sarah, dass sich der Typ bückte. Zugleich war auch der Druck der Messerspitze an ihrem Nacken verschwunden. Sie sah eine Hand mit schmutzigen Fingernägeln. Blitzschnell wurde die Handtasche aus ihrer Nähe weggerissen und angehoben.
»Dreh dich nicht um!«
»Das hatte ich auch nicht vor!«
»Und wenn du mich verarscht hast, Oma, komme ich wieder. Dann steche ich zu.«
Sarah hielt sich mit einem Kommentar zurück. Sie hörte die hastigen Schritte und das Rutschen des Typs über den mit Kies belegten Boden.
Sekunden später war er verschwunden, und die Horror-Oma, die ein wenig blass um die Nase geworden war, drehte sich um.
Der Kerl war nicht mehr zu sehen. Er hatte das Weite gesucht und würde in Ruhe seine Beute durchsuchen. Am Nacken spürte sie noch den Schmerz. Zum Glück steckte in der rechten Manteltasche ein Taschentuch. Das holte sie hervor und drückte es gegen die Wunde. Als sie es wieder zurückzog, sah sie den Blutfleck im Stoff.
Nein, sie hasste den jungen Mann nicht. Sie bedauerte ihn. Wenn er seine Sucht nicht loswurde, war sein Leben verwirkt. Dann würde er irgendwann in der Gosse landen oder - falls er Glück hatte -, in einer Entziehungsklinik für Suchtkranke.
Sarah war nicht so entsetzt gewesen, dass sie alles vergessen hätte. So hatte sie sich schon gemerkt, in welche Richtung der Typ gelaufen war, und sie dachte gar nicht daran, die entgegengesetzte einzuschlagen. Es war zumeist so, dass diese Räuber den Rest der Beute wegwarfen, den sie nicht gebrauchen konnten, und ihre Handtasche hätte sie gern zurückgehabt.
Also ging sie dem Junkie nach…
***
Der Kerl war plötzlich erschienen. Alina Wade hatte ihn auf dem Friedhof noch nie zuvor gesehen.
Zudem kannte sie ihn auch nicht, und er hatte sie nicht gesehen, denn er war so gelaufen, dass er der auf der Bank sitzenden Frau den Rücken zudrehte.
Alina verhielt sich still. Sie wollte nicht so schnell entdeckt werden, aber sie traute sich auch nicht, sich von der Bank zu erheben. So glich sie einer Figur, die von einem Künstler als Auflockerung auf die Bank drapiert worden war.
Der junge Typ blieb stehen. Er war höchstens 20 und stand unter Stress. Alina hatte zunächst nicht erkennen können, was der andere in seiner rechten Hand gehalten und vor die Brust gepresst hatte.
Jetzt, als er sich etwas zur Seite drehte, sah sie es besser.
Es war eine Handtasche!
In diesem Augenblick wurde Alina Wade klar, wen sie da vor sich hatte. Es war einer dieser Friedhofs-Gangster, der unterwegs war, um alten Frauen die Handtaschen zu entreißen. Diese Angriffe hatten in der letzten Zeit überhand genommen.
Der Typ war nervös. Er bewegte sich hektisch. Er keuchte. Er hatte die Handtasche geöffnet. Mit einer Hand wühlte er darin herum. Er schleuderte zur Seite, was er fand. Einen Ausweis, ein Taschentuch, einen Kamm, auch einen kleinen Spiegel - und hielt schließlich das Gesuchte in der Hand.
Es war
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