1178 - Lisas Totenruf
nichts, woran sie sich hätte wärmen können. Die Gruft war auch zu ihrem Grab geworden. Bald würde sie so tot sein wie die Leichen in den Särgen.
Dabei hatte sie die Friedhöfe geliebt. Sie hatte sich zu den Toten hingezogen gefühlt. Es war alles immer so anders und trotzdem wunderbar gewesen. Sie hatte sich deshalb als etwas Besonderes gefühlt, weg von allem Normalen.
Von irgendwoher drang ein störendes Geräusch zu ihr hin. Lisa nahm es zunächst nicht zur Kenntnis. Sie konnte damit nichts anfangen und dachte auch an eine Täuschung oder daran, dass ihr die Nerven einen Streich spielten.
Aber das Geräusch blieb. Als es auch nach einer Weile nicht verschwunden war, konzentrierte sie sich darauf. Es kam nicht von außen, aber es war trotzdem nicht in ihrer Umgebung aufgeklungen.
Also nicht in der Gruft…
Wo dann?
Als wäre ein Schleier von ihrem Gehirn gezogen worden, sah sich Lisa in der Lage, wieder klar denken zu können. Die Gedanken waren wie Stiche, und sie setzten sich zu einer Erkenntnis zusammen.
Das Geräusch war von unten her gedrungen. Unterhalb der Gruft und direkt unter der Klappe.
Als sie so weit gedacht hatte, nahm die Angst nicht ab, sondern zu. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Plötzlich brachen die Schreie aus ihrem Mund. Sie brüllte die Wände an, ohne eine Chance zu haben, von einem Retter gehört zu werden.
Irgendwann versagte ihre Stimme. Das Schreien ging über in ein leises Wimmern. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Im Magen spürte sie einen irren Druck, und sie hatte auch den Eindruck, sich übergeben zu müssen.
Dass sie längst wieder auf dem Boden saß, hatte Lisa gar nicht bemerkt. Ihr heftiger Atem fauchte in die Dunkelheit hinein, hin und wieder von Hustenanfällen unterbrochen. Der eigene Speichel schmeckte bitter.
Der Anfall der Angst lag hinter ihr. Lisa wunderte sich darüber, dass sie so stark reagiert hatte. Dabei war nicht mal viel geschehen. Sie hatte eben nur die Geräusche gehört.
Doch genau das war es - die Geräusche!
Nicht von außen. Aus der Tiefe der Gruft. Unterhalb der Klappe.
Da unten war etwas!
Dort unten in der Tiefe lauerte jemand. Da wartete ein Wesen, ein Gefangener oder was auch immer darauf, sie endlich in die Gewalt zu bekommen.
Noch hörte sie nichts, abgesehen von ihren eigenen Geräuschen. Nichts Fremdes erwischte sie, aber Lisa glaubte längst nicht mehr daran, dass sie allein war.
Sie wusste, dass sich etwas verändert hatte. Es war während ihres Anfalls der Angst geschehen. Sie hatte sich auf nichts anderes konzentrieren können als auf die eigene Umgebung, und genau da war es eben passiert.
Sie würde nicht mehr so durchdrehen, das nahm sie sich vor. Sie war für ihre Verhältnisse immer stark gewesen. Nicht grundlos hatte sie so manchen Friedhof als ihre Heimat betrachtet.
Aber nicht die Gruft…
Lisa zog die Beine an. Sie drehte sich herum und kniete dann auf dem Boden. Mit den Händen und den Knien stützte sie sich ab, den Kopf hielt sie nach vorn gerichtet und atmete durch den offenen Mund.
Was war geschehen?
Um sie herum war es stockfinster. Lisa konnte die berühmte Hand vor Augen nicht sehen, aber da gab es noch das Gefühl, und das sagte ihr, dass sich etwas in ihrer Umgebung verändert hatte, obwohl sie davon nichts erkennen konnte.
Sie tappte nach vorn. Ein paar Mal schlug sie mit den Händen auf. Sie rutschte über die feuchte Steinfläche hinweg und erreichte schließlich den Rand der Luke.
Luke?
Wie ein Stromstoß schossen ihr in den folgenden Sekunden die Gedanken durch den Kopf. Es war der glatte Wahnsinn. Sie wollte es nicht glauben oder einsehen, doch als sie ihre Hände weiter nach vorn streckte, da erhielt sie den Beweis.
Die Luke war nicht mehr geschlossen!
***
Diese Überraschung erwischte sie härter als der Eintritt in die Gruft. Lisa wusste nicht, was sie tun und denken sollte. Zunächst glaubte sie noch an eine Täuschung, eine Halluzination. Dass man ihr etwas vorgespielt hatte. Dass die Phantasie mit ihr durchgegangen war, aber das stimmte nicht.
Mit zitternder Hand umklammerte sie den Rand der offenen Klappe. Lisa war in der Lage, in die Luke hineinzufassen.
Nach einer Weile hatte sich die junge Frau einigermaßen auf die Lage eingestellt. Das widernatürliche Klopfen ihres Herzen hatte sich normalisiert. Sie konnte einigermaßen ruhig atmen.
Eine offene Luke! Gleichzeitig ein Weg in die Freiheit oder in andere Regionen des Friedhofs?
Das war nur zu hoffen. Was immer
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