1183 - Zwischen Licht und Finsternis
dort oben finden die Vermehrungsrituale der Hanen statt. Jeweils 25 Männer kämpfen um eine Frau."
„Na und?" meinte sie spöttisch. „Alles ist jetzt friedlich. Außerdem wird dich keiner der Blues als ernsthaften Konkurrenten betrachten."
Er lachte. „Wohl kaum."
Langsam setzte er sich wieder in Bewegung, und Lory ließ es geschehen, daß er sie bei der Hand nahm. Die Berührung war angenehm; sie vermittelte Vertrauen und Wärme. Abermals fragte sie sich, warum sie sich bis vor kurzem jedem Kontakt mit Gerrit so beharrlich verweigert hatte. Bis dato war ihr entgangen, welch große Lebenserfahrung dieser Mann verkörperte, wie interessant und stimulierend die Begegnung mit ihm sein konnte.
Wie von selbst verfielen beide in eine schnellere Gangart. Ausgelassen lief Lory neben Gerrit her, der noch immer ihre Hand hielt. Schließlich rannten sie lachend den steinigen Hang hinauf, bis der Atem schwerer ging und die erste leichte Erschöpfung einsetzte.
Lory blieb stehen und wandte sich um. Von hier aus konnte sie trotz des noch recht flachen Winkels bereits weite Teile der Hauptstadt überblikken. Die Sonne stach durch glasklare Luft herab und zauberte ein glitzerndes Bild des Friedens. In einigen der weitverzweigten Straßen glaubte sie sogar Kollegen zu erkennen; an der Seite von Hanen, die ihnen in rührseliger Nettigkeit den Weg zu den bedeutendsten Orten ihrer Metropole wiesen. „Schön, nicht?"
„Ja" Gerrit trat von hinten an sie heran und schlang die Arme um ihre Taille. Sein Mund war dicht an ihrem Ohr, als er flüsterte: „Es gibt so viele schöne Dinge in der Welt. Man muß sie nur wahrnehmen."
Auch jetzt war ihr seine Nähe nicht lästig - sie merkte jedoch, daß er weitergehende Absichten verfolgte, die bereits ins Intime hineinspielten. Die Pax-Aura mochte ihr größere Aufgeschlossenheit und ein freundlicheres Wesen gegenüber anderen verleihen, Aggressionen in waches Interesse verwandeln; mehr aber auch nicht. Mit einer raschen Bewegung entwand sie sich seiner Umarmung. „Wie unterschiedlich die Maßstäbe für .schöne Dinge' sein können, nicht wahr?" Sie blinzelte ihm zu. „Gehen wir weiter?"
Eine Sekunde lang schien Gerrit verwirrt. Dann sagte er: „Natürlich. Gerne."
Er hatte die Lektion begriffen. Selbst die Hand, die Lory vorhin geführt hatte, behielt er diesmal bei sich.
Sie kamen zügig voran und gewannen Meter um Meter an Höhe. Mehrmals sah Lory zurück und genoß den Ausblick ins Tal. Nicht mehr lange, dann würden sie das gewaltige Areal der Stadt Chülly vor insgesamt überschauen können. Unterdessen war die Sonne ein gehöriges Stück weitergewandert, und das Gelände wurde zunehmend steiler. Ringsum erhoben sich erste Steinkuppen und Hügel, die in einiger Entfernung zu bizarr aufragenden Felsformationen verschmolzen. „Ich bewundere deine Ausdauer", meinte Gerrit, der das Interesse an dem Aufstieg immer mehr zu verlieren schien. „Allmählich müssen wir jedoch auch an den Rückweg denken. Ich möchte nicht im Dunkeln umhertappen."
„Keine Sorge", entgegnete Lory fröhlich. „Ein paar Meter noch, dann haben wir es geschafft. Ich will die Stadt sehen, die ganze Stadt. Bis die Sonne untergeht, sind wir längst in unserem Quartier."
Er blickte skeptisch gen Himmel, bevor er nickte und entschlossen weitermarschierte. Lory fragte sich amüsiert, ob er den Ausflug tatsächlich nur dazu hatte benutzen wollen, ihr körperlich näherzukommen, und jetzt, nachdem sein voreiliger Kontaktversuch gescheitert war, ihre Gegenwart sogleich als Belastung empfand. Es hätte in das Bild gepaßt, das sie früher bereits von ihm gewonnen hatte. Sie konnte sich allerdings auch täuschen.
Etliche Meter voraus wandte er sich um und deutete ins Tal hinab. „Hier ist ein günstiger Punkt", rief er ihr zu. „Chüllyvor in voller Ausdehnung. Deine Sehnsüchte gehen in Erfüllung."
Lory grinste, doch im gleichen Moment erstarrte ihre Mimik zu einer Maske des Schreckens. Sie sah, ohne zu verstehen.
Kraftlos knickte Gerrit in den Knien ein. Er schrie auf und stürzte zu Boden, rutschte ein Stück die Schräge des Hanges hinab, bevor er die unkontrollierte Bewegung mit den Armen stoppen konnte. „Deckung!" hörte Lory seine gellende Stimme. „Deckung!"
Sie reagierte zögernd, als hindere sie die Pax-Aura daran, an eine Gefahr zu glauben. Hier gab es keine Feinde. Oder doch? „Deckung, verdammt nochmal!"
Erst der neuerliche Ruf brachte sie zur Besinnung. Sie löste sich aus ihrer
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