1197 - Unhold in der Nacht
Über uns schwebte die Lampe, deren gelbliches Licht aussah wie Goldpuder.
Als er wieder zur Flasche greifen wollte, nahm ich sie ihm weg und stellte sie neben mich auf den Boden. »Es ist nicht gut, wenn Sie zu viel trinken.«
»Sind Sie meine Amme?«
»Bestimmt nicht. Ich meine es nur gut mit Ihnen. Ich sehe die. Dinge realistisch.«
Er musste lachen. Es klang nicht glücklich. Mit den flachen Händen schlug er auf den Tisch. »Was heißt schon realistisch? Was ist das, he? Was ist das?«
»Warum fragen Sie das?«
»Weil nichts mehr so ist, wie es mal war.«
»Das denke ich auch«, erwiderte ich. »Die Realität hat sich verändert. Und zu ihr gehört der Werwolf.«
Seine Augen waren starr geworden. Wahrscheinlich nicht vom Alkohol, mehr wegen der Furcht.
»Ja«, erwiderte er plötzlich und zu meiner Überraschung. »Das stimmt. Da haben Sie Recht.«
»Er gehört zu der Realität?«
»Aber immer.«
»Sie haben ihn gesehen?«
»Klar.«
Ich wunderte mich über seine Gesprächigkeit. Bei ihm war ein Damm gebrochen.
»Aber die Bestie hat Ihnen nichts getan, sage ich mal.«
»Dann säße ich nicht hier.«
»Richtig.«
Hayden kicherte jetzt und fragte: »Was denken Sie jetzt?«
»Nicht viel«, gab ich zu. »Ich denke nur daran, dass Sie wohl ein sehr guter Bekannter des Werwolfs sein müssen. Sonst hätte er Ihnen etwas getan. Zwei Morde kommen bereits auf sein Konto, wie wir wissen.«
»Möglich, dass Sie Recht haben.«
»Ich habe Recht, keine Sorge. Sie sind jemand, der sich mit Tieren beschäftigt. Sie hegen und pflegen sie zwar nicht, aber Sie stopfen sie aus. Für mich haben Sie zu Tieren ein besonderes Verhältnis. Nicht nur, was das Geldverdienen dank ihrer Hilfe angeht. Da muss noch etwas anderes vorhanden sein.«
Hayden legte den Kopf schief und grinste dabei. »Woran denken Sie denn dabei, Mr. Sinclair?«
Ich deutete schräg gegen die Wand. Die Spitze des Zeigefingers zielte dabei auf den ausgestopften Wolfsschädel. »Daran, Mr. Hayden, denke ich zum Beispiel.«
Er schaute gar nicht hin. »Es ist eines meiner Meisterwerke«, erklärte er voller Stolz.
»Haben Sie es für sich präpariert oder für einen Kunden?«
»Der Kopf ist für mich.«
»Warum gerade ein Wolf?«
Der Präparator lachte leise vor sich hin. »Weil er etwas Besonderes ist, Mr. Sinclair. Ja, wer kann sich schon mit einem Wolfsschädel schmücken? Bestimmt nicht jeder. Auch nicht jeder in meinem Beruf. Die meisten Kollegen verlassen sich auf die heimischen Tiere. Ich aber habe mir einen Wolfsschädel aufgehängt.«
»Darf ich fragen, woher Sie ihn haben?«
»Besorgt!«
»Einfach so?«
Er stülpte die Unterlippe nach vorn. »Nein, es war schon schwieriger, aber ich konnte ihn fangen und hierher zu mir bringen.«
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, woher sie das Tier…«
»Aus dem Zoo!«, fuhr er mich an. »Denken Sie, ich fahre deshalb nach Osteuropa? Ich habe ihn mir geholt, das ist alles. Ich habe ihn getötet und seinen Schädel ausgestopft. Reicht Ihnen das als Antwort, Sinclair?«
»In diesem Fall schon.«
»Wie beruhigend«, höhnte er.
Ich ließ mich nicht aus der Reserve locken und blieb ruhig. »Nur habe ich da ein Problem. Es gibt ja nicht nur diesen ausgestopften Wolfskopf, es existiert noch ein echtes Tier, was leider nicht nur ein Wolf ist, sondern ein Unhold, den ich gesehen habe. Ich gehe davon aus, es mit einem Werwolf zu tun gehabt zu haben. Es hat zwei schrecklich zugerichtete Tote gegeben. So wie sie umgebracht worden sind, hat das kein normaler Mensch getan. Tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muss.«
Er hatte mich mit keinem Wort unterbrochen und nur angeschaut. »Ihnen braucht nichts Leid zu tun«, erwiderte er überraschend friedlich und auch locker. »Man muss den Tatsachen eben ins Auge sehen.«
»Sehr gut, Mr. Hayden, und was erkennt man dabei?«
»Dass wir Menschen oft die zweite Geige im Leben spielen. Nicht mehr und nicht weniger. Es gibt Dinge, die man akzeptieren muss. Ich habe das gelernt.«
»Was genau?«
»Das sage ich Ihnen schon, Mr. Sinclair. Die zweite Geige. Die erste spielt der Werwolf. Er ist jemand, der uns überlegen ist. Das müssen wir akzeptieren. Daran kommen wir nicht vorbei. Da können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Wir sind zu schwach.«
»Soll das ein Geständnis gewesen sein?«, fragte ich ihn, als er den Kopf senkte.
»Wieso Geständnis? Ich habe nichts zu gestehen, Mr. Sinclair.«
»Es hörte sich so an.«
»Das ist Unsinn.«
»Aber
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