1197 - Unhold in der Nacht
nicht vorstellen. Nur klang es anders als bei einem Menschen. Es war rauer, auch bösartiger und triumphierender.
Das Lachen verstummte. Stattdessen wehten ihr andere Laute entgegen, mit denen sie im ersten Augenblick nichts anzufangen wusste. Bis sie genauer hinhörte und plötzlich herausfand, dass ihr die Bestie eine Nachricht mitteilen wollte.
»Jetzt bist du mein!«
Er wiederholte den Satz einige Male. Wobei die Worte immer von keuchenden Lauten unterlegt waren. Er nickte sogar, er riss sein Maul auf, und Kelly erfuhr, dass die Bestie sogar lachen konnte.
Was sich allerdings anders anhörte als bei einem Menschen. Das Rauschen aus Lautsprechern hörte sich ähnlich an.
Die Fotografin saß nur da. Sie wusste nicht, was sie denken sollte oder konnte. Irgendwo in ihrem Kopf befand sich eine Sperre. Deshalb war es ihr unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr im normalen Leben zu sein. Das alles war ein schrecklicher Traum. Es gelang ihr auch, eine Hand zu heben. Sie wischte damit an ihrem Gesicht entlang, ohne allerdings das Bild wegputzen zu können.
Das Grauen blieb. Es war so real. Sie konnte es anfassen, doch sie hütete sich und befürchtete, einen Schreikrampf zu erleben, wenn sie den Werwolf berührte.
Das Gefühl für Zeit hatte sie ebenfalls verloren. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie an diesem Ort gesessen und die Bestie angestarrt hatte. Das war ihr unmöglich. Die Situation war so absurd. Sie erlebte man zumeist nur in den Filmen, aber dort überlebte das Opfer in der Wirklichkeit.
Als sich die Mutation bewegte, zuckte sie mit den Füßen. Sie kam nicht zurück, außerdem waren die beiden Pranken schneller, die blitzschnell Kellys Knöchel umschlossen.
Jetzt war es passiert. Jetzt war das Finale des Albtraums erreicht. Sie schaffte es nicht, sich aus dem Griff zu befreien. Der harte Ruck zerrte ihre Beine nach vorn. Zugleich fiel ihr Oberkörper nach hinten. Sie schlug auf, hörte sich schreien, dann aber konzentrierte sie sich auf die nächsten Aktionen des Unholds.
Er zog sie über den Boden hinweg.
Es gab keine Chance für sie. Die Bestie hielt alle Trümpfe in den Händen. Er würde sie nicht freigeben, und er zerrte sie immer näher zu sich heran und damit auch auf den verdammten Gullyeinstieg zu.
Kelly rutschte rücklings über den Boden. Der Rucksack bildete noch einen Buckel. Sie hatte sich in den ersten Sekunden nicht aufgerichtet. Jetzt unternahm sie den Versuch und brachte den Kopf so weit hoch, dass sie über ihren eigenen Körper hinwegschauen konnte. Die Knöchel wurden von den beiden Pranken umklammert, die fest wie Ketten waren. Sie würde sich nicht befreien können, und der Werwolf zog sie weiter. Er selbst war mit einem Teil des Körpers wieder im Gullyeinstieg verschwunden. Nur die obere Hälfte und der Kopf schauten noch hervor.
Dann kippte sie nach vorn.
Die plötzliche Richtungsänderung überraschte Kelly so sehr, dass sie den Schrei nicht unterdrücken konnte. Er jagte wie ein panischer, schriller Trompetenstoß durch die Halle und tanzte dabei von einer Wand zur anderen.
Das runde Loch war für sie wie ein Sog. Sie wurde hineingezerrt, sie spürte einen harten Druck an ihrem Rücken, sah für einen Moment noch die Decke der Halle, die wenig später förmlich hinwegrutschte, als sie in die Tiefe des Schachts glitt und die Bestie sie auch jetzt nicht aus ihrem Griff ließ.
Die plötzliche Dunkelheit gab ihr den zweiten Schock. Weit riss sie ihren Mund auf. Sie konnte die Schreie nicht stoppen, als sie in die Tiefe gezerrt wurde, irgendwann festen Boden erreichte und sich eine Pranke auf ihren Mund legte.
Die Schreie erstickten.
Kelly aber lebte.
Sie schaute mit weit geöffneten Augen nach oben, dabei sah sie das Gesicht der Bestie dicht vor sich und wünschte sich, tot zu sein…
***
Ezra Hayden griff zum zweiten Mal zur Flasche und füllte das Glas bis zum Rand. Dabei schaute er ins Leere, atmete schwer und hob das Glas an. Mit einem Ruck kippte er den Gin in seine Kehle.
Ich saß ihm gegenüber am Tisch und schaute ihm zu. Es hatte keinen Sinn, wenn er sich vor meinen Augen betrank, denn er war wichtig für mich. Ich wollte und musste ihm einige Fragen stellen. Seine Antworten würden mich weiterbringen. Mein Instinkt und auch meine Erfahrung sagten mir, dass der Präparator mehr über die Vorgänge und Morde wusste als ich.
Er schaute mich an. Seine Mundwinkel hingen herab. Die Augen waren trübe.
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