1198 - Varunas Hexenreich
Käfig. Ich spüre nichts.«
»Mag sein. Aber dieses Gesicht lässt mich einfach nicht los. Als wollte es mir eine Botschaft vermitteln. Ich frage mich, weshalb Kelly es aufgehängt hat.«
»Vergiss nie, dass sie Fotografin gewesen ist. Da macht man nun mal Aufnahmen. Auch von Gesichtern.«
»Das ist nicht alles, Suko. Außerdem hing dieses Bild einzeln. Wir haben es nicht aus einem Fotoalbum geholt. Das muss schon etwas zu bedeuten haben.«
»Ich bin diesmal überfragt, John. Mit dem Problem musst du allein zurechtkommen.«
Ich drehte das Bild um.
Auf der Rückseite stand ein Name. Er war mit Bleistift geschrieben worden.
»Varuna«, flüsterte ich.
Suko, der bereits zur Seite gegangen war, drehte sich wieder um. »Was hast du da gesagt?«
Ich hielt ihm die Rückseite des Fotos entgegen. »Sie heißt Varuna.«
»Na und?«
»Du hast den Namen nie gehört?«
»Nein. Das kann ich so behaupten, weil er nicht eben üblich ist. Was ist mit dir? Hat Kelly mit dir mal über diese Person auf dem Bild gesprochen?«
»Auch nicht«, musste ich gestehen. »Aber sie und Kelly muss etwas verbunden haben. Eine Gemeinsamkeit. Eine Brücke zwischen den beiden Frauen.«
Mein Freund schüttelte den Kopf. »John, meinst du nicht, dass deine Worte ein bisschen zu weit hergeholt sind? Ich verstehe dich nicht. Du hast dich in den letzten drei Minuten schon verändert.«
»Kann sein.«
»Das ist so!«
Ich drehte das Bild wieder um und betrachtete das Gesicht. Ja, es hatte etwas. Es war kein unbedingt schönes Gesicht, aber es strahlte etwas Geheimnisvolles oder auch Exotisches aus, dem ich mich seltsamerweise nicht entziehen konnte. Das Kribbeln auf meiner Haut war geblieben. Ich war durch den Anblick tatsächlich sensibilisiert worden und dachte jetzt darüber nach, was uns Robin Clear berichtet hatte.
Kelly O'Brian hatte sich verändert. Und sie war einen anderen und neuen Weg gegangen. Und der hatte weg aus der Stadt geführt. Hinein in das Land, in den Südwesten, wo andere Menschen lebten als im Ballungsraum London.
Menschen, die eine besondere Beziehung zur Natur hatten und danach strebten, mit ihr zusammen eine Einheit zu bilden.
Männer und Frauen. Zumeist Frauen, und für sie hatte man auch Namen gefunden.
Hexen!
Moderne Hexen. Auch Heiden. Menschen, die nicht an einen Gott glaubten, sondern an Götter. Die ein in sich gekehrtes Leben führten, um ihre Spiritualität ausleben zu können.
Ich hörte, dass sich Suko sehr laut räusperte. Robin Clear stand noch immer am Schreibtisch.
Manchmal sprach er mit sich selbst.
Ich drehte mich um. Suko hielt ein flaches Buch in der Hand. Er hatte den Arm halb erhoben. »Da, schau, was ich gefunden habe.«
»Und?«
»Lies den Titel.«
Ich nahm das Buch entgegen. Es besaß einen schwarzweißen Einband. Darauf waren Steine abgebildet, hinter denen hohe Bäume aufragten, sodass nur wenig Sonnenlicht gegen die Steine drang.
Ich sah drei schattenbleiche Gesichter von Frauen unterschiedlichen Alters, und dann las ich den Titel vor.
»Hexen, Heiden, Zauberinnen…«
»Darüber bin ich auch gestolpert«, gab Suko zu. »Mir scheint, wir haben etwas entdeckt.«
»Abwarten.«
Ich schlug das Buch auf. Zuerst sah ich Fotos. Jemand hatte die wilden und ursprünglichen Landschaften fotografiert, und dieser jemand war ein Könner gewesen. Allerdings nicht Kelly O'Brian.
Mich störte an diesem Buch nichts. Ich blätterte es durch, fand auch Texte, die einen sehr lyrischen Charakter aufwiesen und von Plätzen und geheimnisvollen Orten berichteten, in denen das Göttliche noch zu spüren war, und ein Begriff fiel mir immer auf.
»Hagazussa«, sprach ich leise.
»Wie bitte?«
»Das steht hier oft.«
»Damit bin ich überfragt.«
Ich hob die Schultern und versuchte es mit einer Erklärung. »Hagazussa bedeutet soviel wie Zaunreiter. Das sind Menschen, die mit einem Bein in der Realität stehen, das andere allerdings in eine magische und spirituelle Welt gestellt haben. Von Hagazussa leitete sich auch der Begriff Hexe ab oder auch Hag und Hain. Das sind die Hecken und Zäune, die am Wegrand stehen. Das ist immerhin ein Hinweis.«
»Und ich habe etwas dazu gelernt«, erklärte Suko.
»Auch das.«
Ich blätterte wieder und sah die Abbildungen zahlreicher Frauen. Zumeist in Verbindung mit einer Landschaft als Hintergrund. Auch einige Männer bekam ich zu Gesicht, aber es waren nur drei insgesamt. Die Frauen schauten alle sehr ernst den Betrachter an. Keine lächelte. Jede
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