12 - Wer die Wahrheit sucht
aufgenommen habt.« Er nickte Simon zu, der den dampfenden Topf zum Tisch trug und die Schale mit Suppe füllte.
»Hör mal, das ist ein denkwürdiger Tag«, sagte Deborah. »Simon hat tatsächlich einen Karton Suppe aufgemacht. Sonst nimmt er immer nur Dosen.«
»Vielen Dank«, sagte Simon.
Cherokee lächelte, aber er sah todmüde aus, wie man eben aussieht, wenn am Ende eines schrecklichen Tages alle Energie aufgebraucht ist.
»Iss deine Suppe«, sagte Deborah. »Du bleibst übrigens über Nacht.«
»Kommt nicht in Frage. Das kann ich nicht -«
»Quatsch! Deine Kleider sind im Trockner und brauchen noch eine Weile. Du willst doch nicht jetzt, mitten in der Nacht, wieder losziehen und dir ein Hotel suchen?«
»Deborah hat Recht«, mischte sich Simon ein. »Platz ist genug. Wir freuen uns, wenn Sie bleiben.«
Cherokees Gesicht spiegelte Erleichterung und Dankbarkeit. »Danke. Ich komme mir vor.« Er schüttelte den Kopf. »Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das im Supermarkt verloren gegangen ist. Ihr kennt das doch sicher. Es merkt erst, dass die Mutter weg ist, wenn es von dem aufschaut, wovon es bis zu diesem Moment so gefesselt war - von einem Comic-Heft zum Beispiel -, und kriegt die große Panik. Genauso fühle ich mich. Hab ich mich gefühlt.«
»Jetzt bist du ja in Sicherheit«, beruhigte ihn Deborah.
»Ich wollte nicht auf euren Anrufbeantworter sprechen, als ich bei euch angerufen habe«, erklärte Cherokee. »Ich wollte nicht, dass es dich wie eine kalte Dusche trifft, Debs. Darum hab ich beschlossen, zu euch zu fahren, aber ich habe mich in der Untergrundbahn total verirrt und bin in Tower Hill gelandet, bevor ich begriffen hatte, wo ich falsch umgestiegen war.«
»Scheußlich«, murmelte Deborah.
»So ein Pech«, sagte Simon.
Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, nur vom Geräusch des Regens durchbrochen, der auf die Steinplatten draußen vor der Küchentür prasselte und an den Fensterscheiben herabströmte. Drei Menschen - und ein hoffnungsvoller Hund - in einer mitternächtlichen Küche. Aber sie waren nicht allein. Die Frage stand im Raum. Sie schwebte unter ihnen wie ein lebendiges Geschöpf, dessen geräuschvoller Atem nicht überhört werden konnte. Weder Deborah noch ihr Mann griffen sie auf, und das brauchten sie auch gar nicht.
Cherokee tauchte den Löffel in die Suppenschale, führte ihn zum Mund und ließ ihn wieder sinken, ohne von der Suppe gekostet zu haben. Einen Moment lang hielt er den Blick gesenkt, dann hob er den Kopf und sah von Deborah zu ihrem Mann.
»Also, es war so«, begann er.
Es sei alles seine Schuld, erklärte er. Ohne ihn wäre China gar nicht erst auf die Idee gekommen, nach Guernsey zu reisen.
Aber er hatte Geld gebraucht, und als ihm dieser Auftrag angeboten worden war, ein Päckchen von Kalifornien auf die Kanalinseln zu befördern und dafür nicht nur den Flug, sondern auch noch ein Honorar bezahlt zu bekommen - na ja, so was konnte man doch nicht ausschlagen!
Er hatte China gebeten, mit ihm zu fliegen, weil der Auftrag vorsah, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam die Ware beförderten, und auch zwei Tickets bereitlagen. Warum nicht?, hatte er sich gedacht. Warum nicht China fragen? Die kam doch sowieso nie aus ihren vier Wänden raus.
Er hatte sie überreden müssen. Das nahm ein paar Tage in Anspruch, aber sie hatte gerade mit Matt Schluss gemacht - Debs erinnere sich doch sicher an Chinas Freund, den Filmemacher, mit dem sie seit Ewigkeiten zusammen war? - und fand schließlich, ein Tapetenwechsel könnte ihr nur gut tun. Sie hatte ihn angerufen, um ihm Bescheid zu geben, und er hatte alles Nötige veranlasst. Sie sollten das Päckchen in Tustin, südlich von LA, abholen und nach Guernsey zu einem Ort in der Nähe von St. Peter Port bringen.
»Was war denn in dem Päckchen?« Deborah stellte sich eine Festnahme wegen Drogenbesitzes am Flughafen vor, mit knurrenden Hunden, die China und Cherokee zähnefletschend bedrohten.
Nichts Verbotenes, antwortete Cherokee. Baupläne. Der Anwalt, der ihn angeheuert hatte -
»Ein Anwalt?«, warf Simon ein. »Nicht der Architekt?«
Nein. Cherokee war von einem Anwalt beauftragt worden, und China hatte das verdächtig gefunden, noch verdächtiger als die üppige Bezahlung und die kostenlosen Flugtickets. Sie hatte deshalb darauf bestanden, das Päckchen vor Antritt der Reise zu öffnen.
Wenn China gefürchtet hatte, die Versandröhre, die ziemlich umfangreich war, enthalte Drogen, Waffen,
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