12 - Wer die Wahrheit sucht
anzurufen.« Cherokee zog die Decke fest um sich. »Das war so um neun Uhr. China hatte mir deine Adresse und die Telefonnummer gegeben. Ich dachte nicht, dass ich sie brauchen würde, aber dann hatte die Maschine wegen des Wetters Verspätung. Und als der Sturm endlich nachließ, war es zu spät, um noch zur Botschaft zu gehen. Darum hab ich dann hier angerufen, aber es war niemand da.«
»Sie wollten zur Botschaft?« Simon nahm Cherokees Glas und goss Brandy nach. »Was ist denn passiert?«
Cherokee nahm das Glas mit einem Nicken des Danks entgegen. Seine Hände waren jetzt ruhiger. Er trank, aber schon beim ersten Schluck begann er zu husten.
»Du musst erst mal raus aus den nassen Sachen«, stellte Deborah fest. »Pass auf, ich lass dir ein Bad einlaufen, und während du in der Wanne liegst, werfen wir deine Sachen in den Trockner. Einverstanden?«
»Kommt nicht in Frage. Das geht nicht. Es ist - verdammt, wie spät ist es eigentlich?«
»Jetzt mach dir mal wegen der Uhrzeit keine Sorgen. Simon, zeigst du ihm das Gästezimmer? Und sieh nach, ob du was Trocknes zum Anziehen für ihn findest. - Keine Widerrede, Cherokee. Es macht überhaupt keine Umstände.«
Sie gingen nach oben. Während Simon nach trockenen Kleidern für den Gast suchte, ließ Deborah das Wasser einlaufen und legte Badetücher heraus. Als Cherokee sich zu ihr gesellte - in einem alten Morgenrock von Simon und mit einem von Simons Schlafanzügen über dem Arm -, reinigte sie die Wunde an seinem Kopf. Er zuckte zusammen, als sie die Haut mit Alkohol abtupfte. Sie hielt seinen Kopf fest und sagte: »Beiß die Zähne zusammen.«
»Hast du keinen Beißring?«
»Den gibt's nur bei größeren Operationen. Das hier zählt nicht.« Sie warf die Watte weg und griff nach einem Pflaster. »Sag mal, Cherokee, woher bist du eigentlich heute Abend gekommen? Doch bestimmt nicht aus Los Angeles. Du hast ja gar kein - hast du Gepäck?«
»Aus Guernsey«, antwortete er. »Ich bin von Guernsey rübergeflogen. Als ich heute Morgen gestartet bin, dachte ich, ich könnte alles heute erledigen und am Abend zurück sein. Darum hab ich nichts mitgenommen. Aber dann habe ich fast den ganzen Tag am Flughafen gehockt und auf besseres Wetter gewartet.«
Deborah fragte: »Alles?«
»Was?«
»Du sagtest, du wolltest alles heute erledigen. Was heißt alles?«
Cherokees Blick glitt zur Seite. Nur einen Moment, aber es reichte, um Deborah zu erschrecken. Als er gesagt hatte, er habe ihre Adresse von seiner Schwester, hatte Deborah angenommen, China habe sie ihm in den Staaten gegeben, vor seiner Abreise, nach dem Motto: »Ach, du fliegst nach London? Dann schau doch mal bei Deborah vorbei!« Doch bei genauerer Überlegung musste sie einsehen, dass dies in Anbetracht der Tatsache, dass sie seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr mit Cherokees Schwester hatte, reichlich unwahrscheinlich war. Wenn also Cherokee mit ihrer Adresse in der Tasche und der ausdrücklichen Absicht, die amerikanische Botschaft aufzusuchen, Hals über Kopf von Guernsey nach London gekommen war, ihm selbst aber offensichtlich nichts fehlte...
»Cherokee«, sagte sie, »ist China was passiert? Bist du darum hergekommen?«
Er sah sie unglücklich an. »Sie ist verhaftet worden«, sagte er.
»Mehr habe ich ihn nicht gefragt.« Deborah hatte ihren Mann unten in der Küche entdeckt, wo er, umsichtig wie stets, Suppe aufgesetzt und den Toaster eingeschaltet hatte. Der zerschrammte Küchentisch, an dem Deborahs Vater im Lauf der Jahre Tausende von Mahlzeiten zubereitet hatte, war für eine Person gedeckt. »Ich dachte, es ist besser nach dem Bad. da kann er sich erst ein bisschen erholen. Ich meine, bevor er uns erklärt - wenn er uns überhaupt etwas erklären will.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen und versuchte, sich einzureden, dass dafür kein Grund bestand. Freunde kamen und gingen, das war etwas ganz Normales im Leben. Aber sie war diejenige, die irgendwann aufgehört hatte zu schreiben. Weil China River zu einem Abschnitt von Deborahs Leben gehörte, den Deborah am liebsten vergessen wollte.
Simon, der mit einem Holzlöffel die Tomatensuppe umrührte, warf ihr einen Blick zu. Er schien ihr Widerstreben, mit Cherokee zu sprechen, als Furcht auszulegen, denn er sagte: »Es kann etwas ganz Simples sein.«
»Was kann an einer Verhaftung simpel sein?«
»Ich meine, nichts Weltbewegendes. Ein kleiner Verkehrsunfall. Ein Missverständnis im Supermarkt, das wie Ladendiebstahl aussieht. Etwas in
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