121 - Das Dorf der lebenden Toten
Er wirkte alt und kraftlos, trug einen weiten Mantel, der den Boden berührte, und der hohe Zylinder mit der blinkenden Metallschnalle machte ihn größer, als er tatsächlich war. Bleich wie eine Leiche sah der Todbringer aus, und in seinen Augen funkelte eiskaltes Grauen.
Dieser Mann des Schreckens war wie ein tödlicher Bumerang. Er flog durch die Zeiten und kam immer wieder zurück. Vor einigen hundert Jahren machte er zum erstenmal von sich reden. Ganze Landstriche hatte er angeblich ausgerottet.
Das war zwar übertrieben - die Überlieferung schmückt ja die Wahrheit gerne aus -, aber die Chroniken zahlreicher Dörfer berichteten von einer grauenvollen Heimsuchung, an der zahlreiche Menschen zugrunde gegangen waren.
Er brachte Unglück, Seelenpein und Mißtrauen über die Menschen. Unbegreifliche Dinge geschahen dort, wo er erschien. Sein Name war Legende.
Er säte mit unerbittlicher Hand und erntete den Tod. In diesem Jahrhundert war er noch nie gewesen, aber er hatte keine Schwierigkeiten, sich anzupassen.
Er wußte, daß ihn die Geschichte totzuschweigen versuchte. Das störte ihn nicht. Er würde bald wieder von sich reden machen, und sein Name würde von Haus zu Haus getragen werden wie eine ansteckende Krankheit, deren Verlauf tödlich war.
Das Dorf, das er für seine bösen Umtriebe ausgewählt hatte, hieß Wellfolk und befand sich zwanzig Kilometer nördlich von London. Harmlose, arbeitsame Menschen wohnten hier, die den Frieden liebten und gut miteinander auszukommen versuchten.
Man konnte fast sagen, Wellfolk war ein Musterbeispiel für Verständnis, Toleranz und rücksichtsvolle Koexistenz.
Die Menschen waren hilfsbereit und pflegten gutnachbarliche Beziehungen.
Ganz klar, daß das einem Mann wie Duncan Sharp ein Dorn im Auge war. Er würde die Idylle von Wellfolk zerstören, Angst und Schrecken verbreiten.
Es würde nicht lange dauern, dann würde in Wellfolk keiner mehr dem anderen trauen. Gutes würde sich in abgrundtief Böses umkehren und Wellfolk im Würgegriff des Grauens stöhnen.
Der Todbringer hatte vor, aus diesem friedlichen Ort ein Dorf des Schreckens zu machen, und niemand - NIEMAND -würde ihn daran hindern können.
Das war immer schon so gewesen.
***
Sie nannten sich Grufties; es war ein neuer verrückter Modetrend, der - wie konnte es anders sein - aus Amerika nach Europa gekommen war.
Das Irrste, Ausgeflippteste hat fast immer seinen Ursprung in den USA, diesem riesigen Land, das unerschöpflich ist - an allem. Wer etwas auf sich hielt, wer »in« sein wollte (wobei der, der »in« sagte, auch schon »out« war), kleidete sich schwarz wie ein Leichenfledderer, schminkte seine Lippen schwarz und das Gesicht weiß.
Man verherrlichte den Tod, das Ende, das Vergehende, und man fühlte sich nachts auf finsteren, einsamen Friedhöfen wohl (oder hatte zumindest so zu tun).
Tagsüber schliefen die Grufties. Erst wenn es dunkel wurde, kamen sie aus den Häusern und trafen sich auf dem Friedhof, um zwischen den Gräbern zu rauchen, zu trinken und all die anderen Dinge zu tun, die passierten, wenn junge Leute beisammen waren.
Manchmal hielten sie schwarze Messen ab, doch es gab einige unter ihnen, die nur mit halbem Herzen dabei waren, die von dem, was sie taten, keinesfalls überzeugt waren.
Sie machten lediglich mit, weil's modern war und weil sie von ihren Freunden nicht ausgelacht und als Spießer bezeichnet werden wollten.
Ihre Eltern waren unglücklich. Sie konnten ihre Kinder nicht verstehen. Aber welche ältere Generation versteht schon die jüngere? Zuerst sind sie wütend und empört, die Erwachsenen. Sie schreien, schimpfen und toben. Aber schließlich resignieren sie, denn die Jungen haben die besseren, unverbrauchteren Nerven und das bessere Stehvermögen. Sie siegen immer, die Jungen… so lange, bis sie selbst erwachsen sind und Kinder haben. Dann werden sie zu Verlierern.
Heute nannten sie sich Grufties, und sie trafen sich auf dem Friedhof von Wellfolk. Helen Brown fürchtete sich, aber sie zeigte es nicht. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, nachts den Fuß auf diesen unheimlichen Totenacker zu setzen.
Es hätte schönere Plätze für ein solches Treffen gegeben. Helen machte bei diesem Blödsinn nur aus Liebe mit -weil sie sich in Paul Sturges verknallt hatte.
Seit sie mit ihm zusammen war, tat sie alles, was er wollte. Sie war glücklich, daß er ihr endlich Beachtung schenkte. Sie hatte ihn immer schon gern gehabt, aber er hatte sie, das kleine
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