1266 - Schleichende Angst
Shaw wusste nicht, was mit ihr passiert war und was sie mit dem Feuer zu tun hatte. Er hatte sie bisher nicht mal zu Gesicht bekommen. Aber es waren Schreie gewesen, da hatte er sich nicht getäuscht. Und er wollte einfach nur helfen.
Er kannte den Wald gut. Er war gewissermaßen sein Revier. Als angehender Biologe hatte er sich eine Arbeit vorgenommen, die für den Fortbestand des Waldes sehr wichtig war. Er wollte über Pilze und deren Verbreitung sowie deren Zukunft schreiben. Zu dieser Zeit, im Frühjahr, wuchsen sie zwar noch nicht, aber er konzentrierte sich da auf eine gewisse Vorspurenauslese, und die würde ihn auch weiterbringen, davon war er überzeugt.
Während er keuchend und hustend weiterlief, dachte er darüber nach, woher das Feuer wohl gekommen sein mochte. Es strömte einen bestimmten Geruch aus, den er von den alten Kohlehaufen kannte, die von den Köhlern in Betrieb gehalten wurden. Es gab diese Meiler noch, aber nicht in diesem Wald. Das Feuer musste eine andere Ursache haben, und natürlich dachte er an Brandstiftung.
Wenn es tatsächlich zutraf, dann war es ein begrenzter Brand, denn ausgebreitet hatte er sich nicht.
Es standen keine Bäume in Flammen, es loderten keine Büsche, es kam ihm fast vor, als hätte eine Gruppe Grillfreunde nicht aufgepasst, sodass ihr Feuer außer Kontrolle geraten war.
Auch dem wollte er nicht zustimmen. Das war einfach nicht drin. In diesem Waldstück wurde nicht gegrillt, denn die Plätze lagen allesamt woanders.
Dieses Feuer musste schon einen anderen Grund haben. Und dann noch die Schreie der Frau. So laut, dass sie selbst außerhalb des Waldes zu hören gewesen waren.
Um das Ziel schneller zu erreichen, hatte Stan Shaw sich nicht auf die normalen Wege verlassen. Er war querfeldein gelaufen und konnte den Brandherd bereits vor sich sehen.
Ja, er stand auf der kleinen Lichtung. Wie er es sich schon gedacht hatte.
Wieder quoll eine gewaltige Qualmwolke auf ihn zu. Er wedelte sie zur Seite und hoffte, dass sich die Schreie noch mal wiederholen würden, damit er die Richtung bestimmen konnte.
Leider tat sich da nichts. Es blieb verdächtig still, und das konnte ihm in dieser Situation gar nicht gefallen. Er fürchtete sich nicht mehr vor dem Feuer oder dem dicken Qualm, sondern davor, was er eventuell zu sehen bekam.
Da der Wind nicht wechselte, konnte er dem meisten Qualm ausweichen. Er lief einen Bogen, der ihn nach links führte, sprang über herumliegendes Bruchholz weg, zertrat mit seinen Füßen Gräser und Farne und sah den Brandherd vor sich.
Stan stoppte wie vor eine Mauer gelaufen.
Sein Herz begann rasend schnell zu schlagen, und er hatte das Gefühl durchzudrehen. Der Mund wollte sich nicht mehr schließen, die Augen ebenfalls nicht, und er wünschte sich, einen Wachtraum zu erleben, was leider nicht der Fall war.
Was er mit den eigenen Augen zu sehen bekam, das entsprach der Wahrheit. Einer verdammten und grausamen Wahrheit, denn hier hatte mitten im Wald jemand einen Scheiterhaufen errichtet.
»Gott, lass es nicht wahr sein…«
Es blieb leider wahr, so wie die Nässe, die das Wasser der Tränen auf seinen Wangen hinterließ. Er hatte sie nicht zurückhalten können, denn nicht der dicht vor einem Baum gebaute Scheiterhaufen war so schlimm, nein, es ging um die Person, deren Schreie er gehört hatte und die von den Flammen erfasst worden war.
Sie hing noch in den Fesseln, die nicht verbrannt waren, weil sie aus Draht bestanden. Man hatte den Körper an einen Baum gebunden, und die Hitze hatte ihn zusammenschrumpfen lassen. Es gab kein Haar mehr. Nur Ascheflocken umtanzten den Kopf. Ihre Füße steckten in der heißen Glut, aber das merkte die Frau nicht mehr, denn das Feuer hatte sie getötet.
Stan Shaw wusste nicht, wie lange er unbeweglich auf dem Fleck gestanden hatte. Er war irgendwie in ein Zeitloch gefallen, aus dem er auch nicht mehr hervorkam. Er hatte das Gefühl, direkt neben sich zu stehen, wie jemand, der seinen Körper verlassen hatte. Er fror und schwitzte zugleich. Eine verbrannte Leiche hatte er noch nie zuvor gesehen. Nur auf der Kinoleinwand oder in der Glotze, aber sonst nicht. Hier konnte er nicht aufstehen und sich ein Bier holen oder sich um irgendwelche Knabbersachen kümmern, die er so gern mit ins Kino nahm. Das hier war echt. So echt wie der verdammte Gestank und der Wald.
Die Tränen in seinen Augen stammten nicht nur von diesem scharfen Geruch. Er spürte auch dieses grauenvolle Gefühl eines Menschen,
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