1267 - Das chinesische Grauen
heben. Das Aufsetzen bereitete ihr sicherlich starke Schmerzen, aber sie war auch jemand, der die Lippen zusammenbiss und weiterging, auch wenn sie mit ihren Sohlen über den grauen Untergrund schlurfte.
Shao schaute nach vorn. Sie wollte die Entfernung zur Einfahrt hin abschätzen - und rührte sich nicht mehr von der Stelle, denn was sie sah, ließ sie erstarren.
Es waren drei Männer. Junge Männer, die sich von der anderen Straßenseite her durch die Einfahrt bewegten. Sie gingen nebeneinander, waren mit ihren Jeans, den Hemden und Jacken nicht auffällig gekleidet. Sie trugen auch sichtbar keine Waffen, aber Shao wusste auf der Stelle, dass sie nicht gekommen waren, um hier den Hof zu fegen. Sie wollten etwas anderes, und zwar von ihr.
Sie blieb stehen. Durch ihren Kopf wirbelten die Gedanken. Eine Entscheidung musste innerhalb kürzester Zeit getroffen werden.
Auch Li hatte Shaos Verhalten bemerkt, aber die drei Männer noch nicht gesehen.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Ich nehme an, es gibt Ärger.«
»Wieso?«
»Schau mal nach vorn.«
Li hob ihren Kopf an. Es verging noch eine Sekunde, bis sie leise aufschrie. Sie kannte die Typen, die jetzt alarmiert worden waren, um alles wieder zu richten.
»Das sind sie.«
»Wer ist das?«
»Sie gehören alle dazu.«
»Okay, dann wollen sie uns?«
»Ja, mich, Shao. Und dich wahrscheinlich auch. So sehen sie aus. Du hast dich eingemischt, du hast sie beleidigt und das kommt einem Todesurteil gleich.«
So hart wollte Shao das nicht sehen, aber sie wusste auch, dass gewisse Banden auf Menschenleben keine Rücksicht nehmen, wenn es um ihre Interessen ging.
Sie traf die Entscheidung auf der Stelle. »Wir müssen zurück, Li. Einfach weg.«
»Wohin denn?«
»In den Laden. Komm!«
Bevor Li reagierte, zerrte Shao sie zurück. Es waren nur wenige Schritte bis zur Hintertür, aber sie wusste auch, dass die drei Ankömmlinge den Hof hier wunderbar überblickten und sie nicht aus den Augen ließen.
Es würde niemand kommen, um ihnen zu helfen, denn keiner stemmte sich gegen die Bande an. Sie konnte zu den Triaden gehören, der chinesischen Mafia, ohne die eigentlich kein Betrieb im Chinesenviertel lief. Das alles war auch Shao bekannt, und sie war ebenfalls über die Grausamkeit dieser Banden informiert.
Als sie ihren Kopf drehte, sah sie den alten Mann hinter der Scheibe. Erschaute zu ihnen hin und nickte, als wollte er sagen: Ich habe dich ja gewarnt.
Li konnte nicht so schnell laufen, aber sie gab sich redlich Mühe. Die Angst um ihr Leben ließ sie vieles andere vergessen, und wieder biss sie die Zähne zusammen.
Shao hatte die Hintertür als Erste erreicht. Auch wenn sie im Lager verschwunden waren und später hinein in das Geschäft liefen, hieß das nicht, dass sie in Sicherheit waren. Diese Bande war mit einem Kraken zu vergleichen, der zahlreiche Arme aufwies, und dem immer wieder neue wuchsen, wenn welche abgeschlagen worden waren.
Sie zerrte an der Tür. Leicht ließ sie sich öffnen. Shao schob Li in die Dunkelheit des Lagers hinein und blieb selbst noch für einen Moment geduckt stehen.
Die drei Typen hatten die Einfahrt längst hinter sich gelassen. Shao wunderte sich darüber, dass sie nicht schneller gingen. Ihr lässiger Gang glich schon einer Provokation. Sie wirkten wie Jäger, die sich sicher waren, dass ihnen das Wild nicht mehr entkommen konnte.
Genau damit musste Shao rechnen. Sie hielten einen Trumpf oder Trick in der Hinterhand. Wenn sie es tatsächlich schafften, ein Viertel zu beherrschen, dann steckten Shao und Li in der Falle. Nur behielt sie dieses Wissen für sich.
Sie riss die Tür zu.
Wieder senkte sich die Dunkelheit über sie. Es würde dauern, bis sie sich zurechtfanden und wieder die einzelnen Gänge erkannten.
»Fass meine Hand an, Li!«
»Ja, und dann?«
»Werden wir es versuchen…«
Mehr sagte Shao nicht. Sie zog Li weiter und hoffte, dass sie es trotz allem noch schafften…
***
Wir waren hinter Tanners Fahrzeug hergefahren und befanden uns in seinem Büro, in dem er allein residierte. Normalerweise saßen die Mitglieder der Metropolitan Police in den Großraumbüros, aber das war nichts für Tanner.
»Setzt euch«, sagte er und deutete auf die beiden Stühle, die sicherlich schon sein Vorgänger mitgebracht hatte. Wir nahmen auf diesen Hämorrhoiden-Quälern Platz und sahen auch, dass Tanner seinen Computer mit einem schiefen Blick betrachtete.
»Magst du ihn nicht?«, fragte ich.
»Er kann nie mein
Weitere Kostenlose Bücher