1267 - Das chinesische Grauen
Freund werden. Aber ohne kommt man auch nicht aus, sagt man.« Beim Sprechen setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und deutete dann auf die Wand. Dort hingen auf einer breiten Pinnwand Zettel mit Notizen. Das sah aus wie die perfekte Unordnung, aber Freund Tanner fand sich darin zurecht. »Das ist für mich besser als der Computer.«
Ihm glaubten wir aufs Wort, denn er war ein alter Routinier. Es gab kaum einen besseren Aufklärer bei der Mordkommission der Metropolitan Police. Den Mantel hatte er ausgezogen, aber den Hut aufgelassen und nur etwas in den Nacken geschoben, ein Zeichen seiner Entspannung.
»Was ist mit Kaffee?«
»Nein, nett gemeint, aber…«
»Schon gut, John. Ich kenne ja deinen verwöhnten Geschmack. Aber nicht jeder hat eine Glenda Perkins, die einen so guten Kaffee kocht. Wir müssen uns eben mit dem Automatenzeug begnügen.«
»Das weiß ich leider.«
Tanner zuckte nur mit den Schultern und griff nach den Unterlagen. Er zog sie zu sich heran, blätterte einen Schnellhefter auf, las, überschlug die Seiten und schüttelte den Kopf.
»Was hast du?«, fragte ich.
»Soll ich alles vorlesen oder euch geben, oder wollt ihr von mir eine Kurzfassung?«
»Die Kurzfassung würde reichen«, meinte Suko.
»Sehr richtig«, erklärte Tanner. Er schlug die Unterlagen nicht zu, sondern schaute ab und zu hinein.
So erfuhren wir die Namen der drei toten Frauen und hörten auch, wo sie gearbeitet hatten.
»Die Bar ist so etwas wie ein Puff«, erklärte Tanner. »Zwar nicht offiziell, aber wer will, der kann.«
»Und sie stammen alle aus diesem Milieu?«
»Ja. Das ist es doch. Da fällt das Verschwinden kaum auf. Und wenn man die Leichen findet und die entsprechenden Fragen stellt, stößt man nur auf verschlossene Lippen.« Er beugte sich vor. »Da kannst du versuchen, was du willst. Da läuft nichts.« Er wandte sich an Suko. »Du wirst das ja am besten wissen.«
»Klar. Nur bin ich jemand, der auch redet.«
»Hier nicht.«
»Warum hat man gerade Frauen getötet und ihnen die Gliedmaßen abgenommen?« wollte ich wissen.
»Da habe ich keine Ahnung, John. Das ist ein Ritual, verstehst du? Etwas anderes kommt mir nicht in den Sinn. Abgesehen von diesem verdammten Frankenstein-Verdacht.«
»Wie heißt die Bar, in der die Frauen gearbeitet haben?«
»Es ist nicht nur eine Bar. Es sind drei, die zusammen gehören. Sie heißt das Dreifache Paradies. Kann stimmen, denn dort bekommen die Gäste alles, was sie wollen. Vom Essen bis hin zum besonderen Nachtisch.«
»Wie heißt denn der Besitzer?«
Tanner blickte Suko an. »Er nennt sich Jacky Wong. Schon gehört?«
Suko musste nachdenken. Wenn er ihn kannte, waren wir nicht überrascht, denn es lebten zahlreiche seiner »Vettern« hier in London, und irgendwie bildeten alle eine große Familie. Doch in diesem Fall musste selbst Suko passen.
»Nein, den kenne ich nicht.«
»Habe ich mir gedacht.«
»Warum?«
»Er ist neu in London. Woher er genau gekommen ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich aus Asien. Man kann ihn als eine durchaus geheimnisvolle Persönlichkeit ansehen.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein, er war angeblich nicht da. Ich hatte das Vergnügen, seinen Stellvertreter zu erleben.«
»Und?«
»Ein aalglatter und widerlicher Typ. So ein moderner Mafiaboss mit zweifacher Ausbildung. Einmal als Killer und zugleich noch als Student der Betriebswirtschaft. Einer im dunklen Anzug und mit perfekt sitzender Krawatte. Zudem ein Schauspieler, der mir alle Antworten gab, nur nicht die richtigen. Er redete davon, wie Leid ihm alles tut, aber da kannst du ein Ei darüber schlagen.«
»Dann ist er der wahre Macher?«
»Nach außen hin schon, Suko.« Tanner schüttelte den Kopf. Der Hut rutschte dabei nicht ab. »Aber ich traue der gesamte Blase nicht. Da führt uns jeder an der Nase herum, das kann ich dir sagen. Und allmählich werde ich verdammt sauer.«
Das war verständlich. Wir wollten noch wissen, ob dieser Stellvertreter etwas Konkretes gesagt hatte, doch Tanner winkte ab.
»Nein, hat er nicht.«
»Wie heißt er denn?«
»Aldo san Eng.«
Suko verzog den Mund. Ich wusste, dass er sich ärgerte, weil ihm dieser Name ebenfalls nicht bekannt war. »Allmählich habe ich das Gefühl, nicht mehr Bescheid zu wissen.« Er gab die Antwort wie eine Verwünschung. »Hier hat sich ein Netzwerk aufgebaut, über das ich keinen Überblick habe. Ich hätte mich mehr um das Wirken meiner Vettern kümmern sollen«, fügte er noch hinzu und
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