1267 - Das chinesische Grauen
Frau«, erklärte Shao. Im Gegensatz zu dem Frager flüsterte sie nicht. Sie sprach normal, auch um zu beweisen, dass sie sich nicht fürchtete.
Der Unbekannte vor ihr schüttelte mit einer unwilligen Bewegung den Kopf. »Es gibt hier keine Frau. Es gibt nur mich. Und ich achte darauf, dass keine Fremden hier eindringen und etwas mitnehmen, was ihnen nicht gehört. Ist das klar?«
»Tut mir Leid, aber ich habe einen Schreigehört.« Shao gehört nicht zu den Menschen, die sich so schnell abschütteln ließen. Wenn sie davon ausging, dass sich jemand in Not befand, dann erst recht nicht. Sie wusste aber auch, dass die Antwort gefährlich für sie werden konnte, und jetzt war sie gespannt darauf, wie der Typ reagieren würde.
Zunächst tat er nichts. Er wartete ab. Er bewegte sich auch nicht. Es war gerade diese Stille, die Shao nicht behagte, und sie spürte, dass sie von einer Botschaft durchdrungen wurde, die von dem Unbekannten ausging. Die Botschaft hieß Gefahr. Das spürte sie sehr wohl mit ihrem sicheren Instinkt.
»Ein letztes Mal. Du hast hier keinen Schrei gehört, weil ich hier nicht geschrieen habe. Und ich bin allein, verstehst du? Völlig allein.«
»Es war der Schrei einer Frau!«
Sie hörte einen Fluch und wusste, dass sie das Rad überdreht hatte. Der Mann reagierte aus dem Stand heraus. Er ging einen schnellen Schritt vor, dann noch einen und erschien aus dem Halbdunkel wie ein rächender Geist, der plötzlich Gestalt angenommen hatte.
Er war Chinese, aber etwas kleiner als sie. Er trug eine enge Hose und ein T-Shirt. Aus seinem Mund drang Shao ein bösartig klingender Laut entgegen, und im gleichen Moment griff er zu.
Genau darauf hatte sich Shao einstellen können. Bevor der Chinese sie berührte, zeigte sie, was in ihr steckte und was ihr Freund Suko ihr beigebracht hatte.
Es ging alles blitzschnell. Bevor sich der Typ versah, raste Shaos Faust auf ihn zu. Sie traf ihn an der Stirn, und dieser Karateschlag war wie mit dem Hammer geführt.
Der Typ gab einen unartikulierten Laut von sich. Seine Vorwärtsbewegung geriet ins Stocken. Er blieb stehen, er schien zu warten, und Shao wollte ihn nicht lange warten lassen.
Sie schlug noch einmal zu. Diesmal erwischte sie ihn an genau der richtigen Stelle am Hals. Schlaff sackte der Typ zusammen und blieb vor ihren Füßen liegen.
Geschafft!
Aber nicht alles, das wusste sie auch. Sie hatte ein Hindernis auf dem Weg nach vorn zur Seite geräumt. Die Ursache des Frauenschreis hatte sie noch nicht entdeckt, und so lange sie die nicht gefunden hatte, würde sie auch keine Ruhe geben.
Shao stieg über den Bewusstlosen hinweg. Andere würden es ihr nicht so leicht machen, das stand für sie ebenfalls fest, aber darum kümmerte sie sich nicht. Sie wollte die Frau finden, die geschrieen hatte.
Noch immer schlich sie zwischen den aufgestellten Kisten umher. Sie schaute zumeist nach vorn, denn nur von dort konnte die Gefahr kommen. Hinter sich hatte sie nichts gehört und nichts gesehen.
Plötzlich war sich Shao nicht mehr sicher. Etwas störte sie, und sie verharrte sofort. Sie merkte, dass etwas Kaltes über ihren Nacken strich. Es war die innerliche Warnung vor einer weiteren Gefahr. Es war besser, wenn sie nicht mehr weiterging.
Shao duckte sich zusammen. Sie suchte den Schutz der gestapelten Kartons, und ohne es zu wollen, machte sie sich Gedanken über die. Warenmenge in diesem Lager hier. Sie war verdammt groß.
Damit hätte man zehn dieser Läden bestücken können. So kam ihr der Gedanke, dass sich in den Kisten und Kartons nicht nur die normalen Waren befanden, die auch im Geschäft vorn verkauft wurden. Entweder befand sie sich hier in einem Zwischenlager, von dem aus andere Geschäfte bestückt wurden, oder es wurden hier illegale Waren gelagert.
Sie ließ eine gewisse Zeit verstreichen, bevor sie sich wieder bewegte. Noch hatte sie nicht bemerkt, was sich da getan hatte. Es konnte auch Einbildung gewesen sein, denn ihre Nerven waren überstrapaziert, und die Kälte auf ihrem Rücken blieb bestehen.
Aber sie stellte noch etwas fest. Wenn sie den Kopf drehte, dann entdeckte sie eines der Fenster an der Rückseite. Durch das Viereck drang das blasse Licht des Tages. Es verteilte sich auf einer freien Fläche, denn dort standen keine Kartons mehr.
Sie glaubte auch, den Umriss einer Tür zu sehen, denn darauf deuteten die schmalen, hellen Streifen hin, die eine Tür durchaus nachzeichneten.
Sie lockte, aber Shao blieb vorsichtig stehen.
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