1267 - Das chinesische Grauen
Sie leise wie möglich ging sie auf das neue Ziel zu.
Den Schrei hatte sie nicht vergessen, und sie hatte auch nicht gesehen, dass jemand weggeschafft wurde. Da hätte sich die Tür öffnen müssen. Also konnte sich die Frau noch in der Nähe befinden, und zwar dicht an der Hintertür.
Auf dem Boden breiteten sich keine Hindernisse mehr aus. Sie stieg nur einmal über einen Sack hinweg, der zur Seite gekippt war. Den Blick hielt sie nach vorn gerichtet, und auf dem Boden sah sie plötzlich eine Bewegung.
Ein längliches Objekt zeichnete sich in der Dunkelheit ab. Es war nicht in der Lage, sich zur Seite zu schieben oder aufzustehen, es blieb liegen, und Shao konnte sich vorstellen, dass es sich um einen Menschen handelte.
Sie blieb stehen und drehte sich dabei, weil sie herausfinden wollte, ob sich irgendjemand in der Nähe aufhielt. Leider war es noch immer verdammt dunkel, sodass sie nichts sah.
So riskierte sie die weiteren Schritte nach vorn, den Blick dabei auf den dunklen Umriss gerichtet.
Die seltsamen Laute waren ebenfalls nicht zu überhören. Sie glichen Schreien, die durch irgendetwas erstickt wurden, damit sie nicht durchklangen. Und Shao brauchte nicht mehr weit vorzugehen, um zu erkennen, was da los war.
Jemand lag auf dem Boden. Ein Mensch, der nicht in der Lage war, sich zu erheben. Als Shao sich niederbeugte, sah sie dort, dass man ihn gefesselt und auch geknebelt hatte. Es musste die Frau sein, deren Schrei sie gehört hatte.
Shao sah nur einen Teil des Gesichts. Die untere Hälfte war von einem breiten Klebeband verdeckt worden. Es reichte bis über die Oberlippe hinweg, um die Nasenlöcher freizulassen, damit die Frau Luft holen konnte.
Es war eine Chinesin. Im Gegensatz zu Shao hatte sie ihre Haare kurz geschnitten. Die Gesichtshaut wirkte so blass wie alter Teig. Eine Wunde konnte Shao im Gesicht nicht entdecken.
Sie kniete sich hin, um sich besser um die Gefesselte kümmern zu können. Die dünnen, aber starken Nylonfesseln hatte sie erst nach genauem Hinsehen an den Fußknöcheln entdeckt. Die Hände sah sie nicht, denn die Arme hatte man auf den Rücken gedreht.
Wichtig war der Mund. Shao griff mit spitzen Fingern an den Rand des Klebebandes, um es abzuziehen. Normalerweise hätte die Gefesselte still liegen bleiben müssen. Das genau tat sie nicht, denn sie bewegte plötzlich ihren Kopf. Zugleich rollte sie mit den Augen, was Shao erst beim zweiten Hinsehen feststellte.
Der Blick war beredt genug. Er enthielt eine Botschaft. Sie hätte sich gewünscht, dass die Gefesselte redete, doch das war nicht möglich.
Shao hörte auch die erstickt klingenden Laute. Sie sah, wie sich der Körper aufbäumte und der Ausdruck sich in den Augen dabei noch verstärkte.
Ein Hinweis. Eine Warnung…
Ja, genau das!
Plötzlich schrillten in Shaos Kopf die Alarmglocken. Die Frau vor ihr brauchte auch nichts mehr zu sagen, denn Shao wusste Bescheid. Es gab auch jemand hinter ihr.
Sie fuhr in die Höhe und zugleich herum. Sie versuchte auch, sich zur Seite zu werfen, und sie hatte wirklich viel Schwung in die Bewegung gelegt, aber sie hatte es nicht mit einem Anfänger zu tun, sondern mit einem Typen, der sich auskannte.
Er selbst berührte Shao noch nicht, aber etwas anderes berührte sie wie ein sanfter Hauch. Es streifte vor ihrem Gesicht entlang nach unten, wischte federleicht über die Haut hinweg, erreichte ihren Hals, und dann wurde es brutal.
Shao bekam keine Luft mehr. Sie war ihr von der verdammten Seidenschlinge entrissen worden…
***
»Tu mir einen Gefallen, John, geh mit.«
»Meinst du?«
Suko fasste mich an der Schulter und zerrte mich von meinem Schreibtischstuhl hoch. »Außerdem ist Tanner nicht nur mein Freund, sondern auch deiner.«
»Richtig. Aber dich hat er angerufen.«
»Er meinte aber uns beide.«
»Ja, ja, okay, was tut man nicht alles, um gegen die Frühjahrsmüdigkeit anzugehen.« Ich gähnte, während ich mich von meinem Freund hochziehen ließ und stützte mich noch an der Kante des Schreibtisches ab. So war ich um den guten alten Büroschlaf gekommen. Mich hatte auch kein Kaffee am Morgen aufheitern können, denn Glenda Perkins wollte ein wenig später kommen, weil sie noch was zu besorgen hatte.
Worum es genau ging, das wusste auch Suko nicht. Tanner hatte ihn verlangt und auch von einer Leiche gesprochen, die im Hafen angeschwemmt worden war. Nun war Tanner kein Mann, der die Pferde scheu machte. Wenn er etwas von uns wollte, dann musste er schon
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