1267 - Das chinesische Grauen
ich.
»Tanner hier. Wo bleibt ihr denn?«
»Du kennst doch den Verkehr in London.«
»Ja, ich weiß.«
»Wir sind gleich da.«
»Gut, dann warten wir noch mit dem Abtransport der Leiche.«
»Ist das so wichtig?«
»Leider. Ihr müsst sie euch anschauen, aber dazu kommen wir später.«
»Gut.«
»Was meint er?«, fragte Suko.
Ich warf ihm einen schrägen Blick zu. »Dass wir uns die Leiche näher anschauen sollen.«
»Das hat er zu mir auch gesagt.«
»Mehr nicht?«
»Nein. Es ist alles ziemlich rätselhaft. Ich weiß nur, dass mich der Fall besonders angehen soll.«
»Also hat er was mit Chinesen zu tun.«
»Das glaube ich auch.«
Wir kamen jetzt besser weg und rollten in Richtung der alten Hafenbecken. Sie waren nicht zugeschüttet worden wie die anderen, denn hin und wieder dienten sie als Abstellplatz für Schiffe. Über eine Straße, die mehr einem Kai ähnelte, fuhren wir auf unser Ziel zu, denn der Einsatzwagen der Tanner-Mannschaft war nicht zu übersehen.
Natürlich waren auch die Absperrbänder vorhanden, die im leichten Wind flatterten, und Tanner stand wie ein König da, der sich jetzt in Bewegung setzte, als er uns erkannte.
Er sah natürlich aus wie immer. Grauer Anzug, grauer Hut, die Weste fehlte ebenfalls nicht, und der Mantel stand offen. Nur auf einen Zigarillo hatte er verzichtet. Aus seinem leicht knautschig wirkenden Gesicht traf uns sein bitterböser Blick. Kaum waren wir in seine Nähe gelangt, fing er schon damit an, sich zu beschweren. »Ihr seid mal wieder verdammt spät dran. Jetzt kann ich nachvollziehen, dass Scotland Yard immer mehr in die Kritik gerät.«
»Wir haben unser Bestes getan.«
»Das habe ich meiner Frau auch schon gesagt, der ich versprochen habe, einen Einkaufsbummel mit ihr zu machen.«
»Heute?«
»Ich habe eigentlich frei. Oder wollte mir frei nehmen, aber dann kam das wieder dazwischen.«
»Was?«, fragte ich.
»Die Tote!«
»Ach, eine Frau.«
»Sehr jung noch«, sagte Tanner leise.
»Es ist eine verdammte Scheiße, so etwas zu sehen.« Sein Blick richtete sich auf Suko. »Sie ist übrigens Chinesin.«
»Hat das etwas zu bedeuten?«
»Darauf komme ich später zurück. Ihr solltet euch die Tote zunächst mal anschauen.«
Man hatte sie aus dem schmutzigen Wasser gezogen und auf den Kai gelegt. Das große Becken war nicht leer.
Zwei alte Schiffe waren vertäut. An ihren Rümpfen fraß der Rost.
Tanner ging vor. Wir passierten seine Mitarbeiter, die uns zunickten, denn sie kannten uns, weil wir schon oft zusammengearbeitet hatten. Ich spürte den leichten Druck in der Brust, denn ich würde mich niemals daran gewöhnen, immer wieder mit Toten konfrontiert zu werden. Sie zu sehen, war für mich jedes Mal eine Premiere.
Die Töte hatte man abgedeckt. Tanner bückte sich und lupfte die Plane an. Man hatte die Frau getötet und ihr etwas entnommen.
Es fehlte der linke Arm!
***
Das war etwas, womit wir nicht hatten rechnen können. Tanner hatte uns auf den Anblick nicht vorbereitet, der auch Suko an die Nieren ging, denn mein Freund und Kollege schüttelte den Kopf.
»Wer macht denn so etwas?«, murmelte Suko.
»Wir wissen es nicht«, erwiderte Tanner.
Ich enthielt mich eines Kommentars und schaute mir die Stelle an, an der der Arm abgetrennt worden war. Nicht abgerissen, sondern abgetrennt. Chirurgisch. Die Frau war erwürgt worden, denn die Male zeichneten sich noch an ihrem Hals ab.
»Keine Spuren, Tanner?«
»Nein, nein.« Tanner deckte die Tote wieder zu. »Aber ich habe euch nicht deswegen gerufen. Es ist da noch etwas, das mir große Probleme bereitet. Wir fanden nicht die erste Leiche, der Gliedmaßen fehlen. Es gab noch zwei andere. Zum einen wurde eine Frau umgebracht, die nur noch ein Bein besaß, das linke, und zum anderen haben wir jemanden gefunden, dem das rechte Bein abgenommen wurde. Hier ist der linke Arm. Wenn man weiterspinnen soll, dann kann man zu dem Ergebnis kommen, dass noch eine Tote fehlt. Und zwar die, die keinen rechten Arm mehr besitzt. Drei Leichen haben wir gefunden. Kommt noch eine vierte hinzu, dann sind die Körperglieder komplett.« Er zuckte die Achseln. »Ich finde es selbst nicht gut, dass ich diese makabre Rechnung aufgestellt habe, aber ich komme daran einfach nicht vorbei.«
»Sicher«, murmelte ich, »so gesehen hast du Recht.« Es wollte mir trotzdem nicht in den Kopf, und ich fragte: »Aber wer macht denn so etwas, verflucht noch mal? Was steckt dahinter?«
»Ich weiß es nicht«, gab Tanner
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