1324 - Der Große Bruder
Hoffnung, daß er das Bewußtsein verlor, bevor sein Wille zerbrach.
Ein greller Blitz blendete ihn durch geschlossene Lider hindurch. Der Pterus stieß einen gurgelnden Schrei aus. Ein dröhnendes Rauschen lag in der Luft. Es roch eigenartig, nach feuchter Erde und exotischen Pflanzen.
Verblüfft riß Sid die Augen auf, Für den Augenblick hatte er vergessen, daß er den Erstickenden spielen sollte. Was er sah, erschien ihm so unwirklich, daß er eine Sekunde lang glaubte, der Schmerz hätte ihm den Verstand verwirrt.
Über ihm hingen regenschwere Äste, aus deren Blattwerk sich das Wasser in Strömen ergoß. Die Luft war mit Feuchtigkeit gefüllt. Es war das trommelnde Rauschen des Regens, das er gehört hatte.
Donner brüllte auf. Ein zweiter Blitz folgte hinterher, dieser weitaus näher als der erste, denn der Donner begann zu knattern, kaum daß die feurige Lichtbahn erloschen war.
„Heh, was ist das?" schrie Notkus Kantor.
Die Leuchtplatte war verschwunden, und mit ihr die glatte, hellgraue Decke. Sid Avarit hörte die schnarrende Stimme des Pterus sich entfernen. Es krachte und knackte im Unterholz. Veruzaal Portaq, der Zuverlässige, nahm Reißaus.
Regen platschte Sid Avarit ins Gesicht. Er stutzte. Das Fesselfeld ließ nur gasförmige Materie passieren. Für lange, pseudokristalline Molekülketten, wie sie in Flüssigkeiten vorkamen, oder gar für feste Materie war er undurchlässig.
Woher kam die Nässe?
Er hatte den richtigen Gedanken. Aber Enza Mansoor kam ihm um eine Zehntelsekunde zuvor. Sie hatte den Sachverhalt durchschaut.
„Kein Fesselfeld mehr!" schrie sie. „Wir sind frei!"
*
Die Szene war unwirklich. Inmitten des triefenden Waldes, unter Bäumen, wie sie keiner der vier je zuvor gesehen hatte, standen vier fahrbare Liegen aus Polymermetall, leicht gepolstert, jede mit einem unter der Liegefläche montierten Mikroaggregat versehen, das noch vor wenigen Minuten ein Fesselfeld projiziert hatte.
„Ein bißchen von der Wirklichkeit ist noch da", sagte Enza verwundert. „Ich frage mich, wohin der Rest geraten ist."
Sie sahen einander an, nackt wie sie waren und triefend vor Nässe, und mit einemmal fingen sie wie auf Kommando an zu lachen.
„Wir gehen in die Geschichte ein als die Nudisten von S'agapo", sagte Notkus Kantor.
„Wenn das überhaupt S'agapo ist", gab Sid Avarit zu bedenken. „Immerhin waren wir vor ein paar Minuten noch an Bord eines Raumschiffs. Wie kommen wir in diesen Wald? Und sind wir überhaupt noch im Styx-System?"
„Wo sonst?"
Sid hob die Schultern. Da sagte Tirzo: „Realitätsverschiebung. Sato Ambush."
„Wie bitte?"
„Ich habe von Ambush gehört", erklärte der Blue. „Er experimentiert mit der Pararealistik.
Er ist an Bord der BASIS. Ich nehme an, wir haben ihm unsere Rettung zu verdanken."
„Rettung - pah!" rief Notkus. „Nackt mitten in einem fremden Wald. Nennt man das Rettung?"
Rollender Donner unterstrich seinen Protest. Das Gewitter entfernte sich allmählich.
„Er muß sich etwas dabei gedacht haben", beharrte Tirzo. „Ein Teil der aktuellen Wirklichkeit ist noch vorhanden. Wartet!"
Er sah sich um. Unter dem dichten Blattwerk des Waldes, unter dem von Gewitterwolken verhangenen Himmel war es finster. Aber Tirzos Gesichtssinn reichte ein wenig ins Infrarote hinein. Er sah die Spuren, die Veruzaal Portaq hinterlassen hatte.
„Ihm wollen wir nicht folgen", sagte er mehr im Selbstgespräch. „Aber dort entlang führt ein Weg."
„Worauf willst du hinaus?" fragte Sid Avarit.
„Die vier Liegen", antwortete der Blue. „Es kann sein, daß sie nicht das einzige Überbleibsel der aktuellen Wirklichkeit sind. Vielleicht finden wir noch mehr. Wir brauchen uns nur umzusehen."
*
Auf einmal spürte Sato Ambush, daß er sich zuviel zugemutet hatte. Seine Kräfte reichten nicht aus, die Leistung des Striktors auf Dauer in der gewünschten Weise zu dirigieren. Er fühlte sich matt und elend. Er spürte, wie das psionische Strahlenbündel seinem Bewußtsein entglitt.
Wie viel Zeit war verstrichen? Hatten die Wissenschaftler, die Paratensoren und die Besatzung der IANUS Gelegenheit gehabt, sich in Sicherheit zu bringen?
Er hörte Bäume rauschen. Er hörte den Regen trommeln. Irgendwo in weiter Ferne rumorte ein Gewitter. Er wußte, daß er sich in einer Welt der verschobenen Wirklichkeit befand. Aber er getraute sich nicht, die Augen zu öffnen. Solange er konnte, mußte er sich an das Bündel psionischer Energie klammern,
Weitere Kostenlose Bücher