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1327 - Das Geheimnis der Wissenden

Titel: 1327 - Das Geheimnis der Wissenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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besaß noch immer großen Einfluß, und man legte Wert darauf, sie zu bestimmten Problemen nach ihrer Meinung zu fragen. Auch war sie selten allein. Es gab genug Kartanin, die es als eine Ehrensache ansahen, Artgenossen wie Vai-Sinh-H'ay dienend ihre Achtung zu erweisen. Vai-Sinh hatte noch immer ein gutes Auge und einen scharfen Verstand, und für jene jungen Kartanin, die sie sich aus der Schar der Bewerber und Bewerberinnen heraussuchte, wurde der Dienst für Vai-Sinh-H'ay fast immer zum Sprungbrett zu anderen, verantwortungsvollen Tätigkeiten. Sie war nicht nur Dao-Lin eine gute Lehrerin gewesen.
    Aber Dao-Lin war etwas Besonderes. Vai-Sinh wußte das, und sie wußte auch, daß es ungerecht war, die anderen an Dao-Lin zu messen. Sie bekämpfte energisch ihre Neigung, es trotzdem zu tun, und das gelang ihr auch recht gut.
    Trotzdem gab es Augenblicke, in denen sie sich danach sehnte, mit Dao-Lin zu sprechen.
    Vai-Sinh hatte seit vielen Jahren keine Träne N'jalas mehr berührt. Ihr letztes Paratau-Erlebnis lag weit zurück und wirkte mittlerweile ziemlich unwirklich, fast wie ein Traum. Sie war noch immer eine gute Esperin, und es gab immer wieder Augenblicke, in denen sie in Versuchung war, ihre Fähigkeiten mit Hilfe von Paratau zu steigern.
    Die Tränen N'jalas waren seit jeher knapp gewesen. Man durfte sie nicht verschwenden.
    Seit der Gründung von Lao-Sinh galt das doppelt und dreifach. Trotzdem hätte Vai-Sinh-H'ay Paratau bekommen können. Sie hatte das ausprobiert. Sie brauchte gelegentlich kleine Mengen Paratau für ihre Schülerinnen. Man hatte ihr die Tränen stets sofort ausgehändigt und niemals Nachprüfungen angestellt. Es wäre ein leichtes für sie gewesen, die Tränen für sich selbst zu verwenden. Niemand hätte das bemerkt - vorausgesetzt, sie hätte die Angelegenheit mit heilem Verstand hinter sich gebracht. Aber sie hatte keine der zahlreichen Gelegenheiten genutzt.
    Es war nicht die Angst, die sie dazu bewegte, auf die Steigerung ihrer Fähigkeiten zu verzichten, sondern die Disziplin.
    Vai-Sinh-H'ay war eine in jeder Beziehung vorbildliche Kartanin. Sie war das nicht aus Zwang oder weil ihr gar nichts anderes übrig blieb. Sie war es nicht einmal aus Überzeugung.
    Sie war deshalb eine so vorbildliche Kartanin, weil es ihrer Auffassung vom Leben entsprach. Sie unterwarf sich den Gesetzen ihres Volkes, weil es ihr als widernatürlich erschienen wäre, dies nicht zu tun.
    Vai-Sinh-H'ay wäre niemals auch nur im Traum auf die Idee gekommen, daß sie sich gerade dadurch einer Gefahr aussetzte. Aber gerade das war der Fall.
     
    *
     
    Es war ein kalter, stürmischer Abend. Die Stadt versank in Schnee- und Graupelschauern, und hier draußen, in den Außenbezirken nahe den Felsen, waren die Straßen für Fußgänger und bodengebundene Fahrzeuge schon seit Stunden nicht mehr passierbar. Unten, im „Graben", leuchteten schon seit dem frühen Nachmittag die Infrarotstrahler, Vai-Sinh-H'ay sah sie als dunkelrote Flecken, die schwach und seltsam tröstlich durch die fast waagerecht dahintreibenden Schnee- und Graupelschwaden blinzelten. Um das Haus heulte der Sturm, erhob sich manchmal zu schrillem Pfeifen und erstickte gelegentlich im plötzlichen Stakkato eines Hagelschauers, der das Vordach über der Terrasse zum Vibrieren brachte.
    Vai-Sinh-H'ay ruhte auf einem Lager nahe dem Fenster, das sich auf die Terrasse hin öffnete. Frische, kalte Luft wehte herein, und sie fühlte sich entspannt und schläfrig.
    Fast unmerklich glitt sie ins Reich der Träume hinüber. Sie sah sich - wieder einmal - in einem Fernraumschiff, vor sich einen Behälter mit Paratau. Sie nahm eine Träne N'jalas in die Hand und spürte die Kraft, die sie durchdrang.
    Und dann hörte sie den Ruf.
    Vai-Sinh-H'ay! Ardustaar ruft dich. Komm zu uns. Vertraue dem, der dir den Weg zeigen wird!
    Dieser Ruf war sehr eindringlich. Er schien nicht in den Traum hineinzugehören.
    Mit einem Ruck wachte sie auf.
    Das Fenster stand weit offen. Der Sturm mußte es aufgedrückt haben.
    Ein paar verirrte Schneeflocken wirbelten herein.
    Vai-Sinh tastete nach der Klingel, als ihr plötzlich einfiel, daß sie allein im Haus war. Sie zog die Hand zurück - und stieß gegen einen Gegenstand, der nicht an diesen Platz gehörte.
    Sie nahm ihn und starrte sekundenlang darauf, ohne zu begreifen. Dann kam ihr endlich die Erleuchtung.
    Paratau!
    Im ersten Augenblick dachte sie noch, eine ihrer Schülerinnen hätte das Kästchen versehentlich stehen

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