1327 - Das Geheimnis der Wissenden
gelassen. Sie hatten es heute alle sehr eilig gehabt, denn in der Stadt fand eine Veranstaltung statt, die sie um keinen Preis versäumen wollten. Und in der Eile ...
Nein, es konnte nicht sein. Keine von ihnen hatte an diesem Tag mit Paratau gearbeitet.
Vai-Sinh war zwar alt, aber ihr Gedächtnis funktionierte einwandfrei. Sie hätte eine so wichtige Angelegenheit nicht vergessen. Außerdem wußten ihre Schülerinnen, daß Vai-Sinh die Tränen N'jalas nicht mehr benutzen durfte. Keine von ihnen hätte ein solches Kästchen neben dem Lager der alten Kartanin stehen lassen, noch dazu geöffnet.
Aber wie war das Ding dann hierher gekommen?
Wie ein Echo aus ihrem Traum fing sie den Ruf erneut auf.
Vai-Sinh-H'ay, komm zu uns! Ardustaar braucht dich!
Das war kein Traum.
Sie hörte die Stimme wirklich - nicht mit ihren Ohren, sondern mit ihrem Geist.
Erschrocken betrachtete sie ihre Hände, aber natürlich hinterließ Paratau keine Spuren.
Die Tränen N'jalas waren nichts anderes als psionische Energie in fester Form. Sie lösten sich spurlos auf, wenn man sie...
Ein Geräusch. Vai-Sinh-H'ay hörte es deutlich, selbst über das Heulen des Sturmes hinweg, denn es war ganz in der Nähe.
Jemand hatte das Haus betreten. Ein leichter Luftzug aus der falschen Richtung ließ die dünnen Metallringe am Türvorhang ganz leise klirren. Das Klirren wiederholte sich, als der ungebetene Gast seinen Weg ins Innere des Hauses nahm.
Vai-Sinh-H'ay richtete sich vorsichtig auf. Das fiel ihr leichter als sonst, und sie wunderte sich darüber.
Der heimliche Besucher hatte den Nebenraum erreicht. Vai-Sinh erkannte das daran, daß der Türvorhang sich für einen Augenblick ganz leicht bewegte. Hören konnte sie ihren Besucher nicht, auch nicht spüren. Er bewegte sich völlig lautlos, und er schien psionisch nicht erfaßbar zu sein.
Vai-Sinh beschloß, der Gefahr - falls es eine war - entgegenzugehen, anstatt einfach nur abzuwarten.
„Komm herein!" sagte sie laut.
Für einen Augenblick blieb es still. Obwohl Vai-Sinh sich anstrengte, könnte sie keinen noch so leichten Impuls des Erschreckens auffangen. Ihr Besucher schien ein gutes Gewissen zu haben, und das war beruhigend.
Der Vorhang wurde zurückgeschlagen, und ein Kartanin betrat das Zimmer.
„Ich wollte dich nicht erschrecken", Sagte er.
Sie betrachtete ihn aufmerksam. Er war noch recht jung, und er hielt sich sehr gerade.
Irgendwie wirkte er arrogant. Sonst war nichts Besonderes an ihm, wenn man davon absah, daß Vai-Sinh auch jetzt noch nicht imstande war, seine Gefühle aufzufangen, von seinen Gedanken ganz zu schweigen.
„Was willst du hier?" fragte sie schließlich.
„Ich habe den Auftrag, dich abzuholen", erwiderte er.
„Wer bist du? Wer schickt dich?"
„Ich habe nicht den Auftrag, dir das mitzuteilen", erklärte der Kartanin ruhig.
Vai-Sinh-H'ay starrte ihn verständnislos an.
Es war doch ein Versehen, dachte sie. Jemand hat das Kästchen schlicht und einfach vergessen. Im Traum habe ich hineingegriffen und die Tränen N'jalas genommen. Wie viele mögen es wohl gewesen sein? Aber das ist jetzt eigentlich auch egal. Tatsache ist, daß ich jetzt den Preis bezahlen muß. Dies ist hier ebenfalls nur ein Traum - aber ich kann Traum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden.
„Wohin sollst du mich bringen?" fragte sie.
„Zu denen, die dich gerufen haben", sagte der Kartanin.
„Woher weißt du von dem Ruf?" fragte sie und ärgerte sich, kaum daß die Worte heraus waren. Sinnlos, eine Traumfigur nach solchen Dingen zu fragen!
„Man hat mir mitgeteilt, daß es Zeit sei, dich zu holen", erwiderte der Kartanin. „Bist du bereit?"
„Wozu?"
„Von hier fortzugehen."
Es war der verrückteste Traum, den sie je erlebt hatte. Allmählich begriff sie, warum man sie so eindringlich vor den Tränen N'jalas gewarnt hatte.
„Nein", sagte sie.
„Warum nicht?" fragte der Kartanin ohne jede Spur von Erstaunen.
Er wirkte gefühllos. Nicht grausam, aber gleichgültig. Sie konnte noch immer nicht erraten, was er dachte oder fühlte - wahrscheinlich gar nichts.
„Paß auf, sagte sie. „Das hier ist zwar nur ein Traum, aber ich habe trotzdem nicht vor, das Haus zu verlassen. Gib dir keine Mühe - du kannst mich nicht umstimmen."
Gespannt wartete sie auf seihe Reaktion. Irgend etwas mußte er jetzt unternehmen.
Aber er stand einfach nur da und wartete.
Geh mit ihm!
Sie schrak zusammen. Da war wieder diese Stimme in ihrem Kopf. Natürlich war
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